Direkt zum Inhalt
mit:forschen!

Die Plattform für Citizen-Science-Projekte aus Deutschland: Mitforschen, präsentieren, informieren!

Bibliotheken & Archive: Über Mentalitäts- und Alltagsgeschichte mit Marlene Kayen

Foto: Rrrainbow von Getty Images Pro / Canva

Im Deutschen Tagebucharchiv e.V. (DTA) werden Tagebücher, Briefe und Erinnerungen von Freiwilligen gesammelt und aufbereitet. Anschließend stehen sie als Quellen zur Verfügung. Wir haben mit der Vorsitzenden Marlene Kayen über den Hintergrund des Projekts, die Aufgaben der Engagierten und kuriose Recherche-Anfragen gesprochen.

Woran arbeiten Sie und Ihr Team im Deutschen Tagebucharchiv?

Marlene Kayen: Wir arbeiten an der Sammlung und Archivierung von unveröffentlichten Tagebüchern von Herrn und Frau Jedermann. Unser ältestes Tagebuch ist aus dem Jahr 1760 und stammt von einem Feldprediger im Siebenjährigen Krieg. In kleinerem Maße sammeln wir auch Erinnerungen. So nennen wir Schriftstücke von Menschen, die auf ihr Leben zurückschauen und dabei manchmal Familiengeschichte mit einbringen. Bis vor kurzem haben wir auch Briefe gesammelt, aber das machen wir momentan nur noch in Ausnahmefällen, zum Beispiel bei eigenständiger Digitalisierung. 

Das Deutsche Tagebucharchiv gibt es bereits seit 27 Jahren. Was ist die Motivation hinter dem Projekt und warum ist die Arbeit wichtig? Wie fing damals alles an?

Marlene Kayen: Entstanden ist die Idee zum Archiv in Emmendingen Ende der 1990er Jahre mehr oder weniger durch Zufall. Die DTA-Gründerin und damalige Stadträtin Frauke von Troschke erfuhr beim Besuch bei ihrer Schwester in der Toskana vom italienischen Tagebucharchiv und realisierte, dass es so etwas in Deutschland gar nicht gab. Das wollte sie sofort ändern und fand im Bürgermeister einen wohlwollenden Unterstützer und los ging es. Ziemlich schnell wurde als Grundsatz festgelegt, die Mentalitäts- und Alltagsgeschichte von Menschen zu sammeln und aufzubewahren, die sonst nicht gehört werden. Wir können alles über Ludwig XIV. oder Napoleon lesen oder im besten Fall auch über frühe, weibliche Abgeordnete in der Weimarer Republik. Aber Ende der 1990er Jahre fand man in öffentlichen Einrichtungen sehr wenig Autobiografisches von nicht prominenten Menschen. Was die Aufbereitung unserer Sammlung angeht, gibt es zwei Linien: Zum einen stellen wir sie für die wissenschaftliche Forschung zur Verfügung und zum anderen für die interessierten Laien. Diesen präsentieren wir in unserem kleinen Museum immer wieder wechselnde besondere Sammlungsstücke. Darüber hinaus veröffentlichen wir Exzerpte oder Ergebnisse unserer Arbeit in Broschüren, auf unserer Webseite und auf Instagram.

Aus welchen Disziplinen kommen Wissenschaftler*innen auf Sie zu, um das Material zu nutzen? Wie sehen solche Anfragen aus?

Marlene Kayen: Querbeet eigentlich. Der größte Teil kommt aus der Geschichte, aber auch beispielsweise aus der Ethnologie, der Medizinsoziologie oder Psychologie. Dann gibt es Anfragen aus dem journalistischen Bereich oder von Menschen, die einen Roman schreiben und ein Gefühl für eine bestimmte Zeit entwickeln wollen. Inhaltlich bringen mich die Anfragen immer wieder zum Staunen. Zum Beispiel wollte ein Regionalhistoriker Tagebuchauszüge über das Eierhäuschen haben. Ich habe gedacht, das sei vielleicht ein Osterbrauch, aber es handelt sich um ein in Berlin-Treptow bekanntes Ausflugslokal. Durch Volltextsuche in unserem digitalisierten Bestand haben wir tatsächlich fünf Dokumente gefunden, in denen das Eierhäuschen vorkam. Wir haben dann herausgefunden, dass schon Fontane es in seinem „Stechlin“ erwähnt hat. Manchmal bekommen wir solch ganz spezielle Forschungsanfragen, aber meistens sind es eher weiter gefasste Themen wie zum Beispiel ‚Frauen im Nationalsozialismus‘.

Was für ein Team steht hinter dem Archiv? Welche Aufgaben fallen an?

Marlene Kayen: Wir sind ein Verein mit knapp 600 Mitgliedern, die das Ganze tragen. Davon sind gut 100 Freiwillige aktiv. Es gibt einen ehrenamtlichen geschäftsführenden Vorstand und eine Geschäftsstelle mit 4 bezahlten Kräften. Häufig wird diese unterstützt durch junge Menschen, die ein Praktikum machen. Ein wissenschaftlicher Beirat begleitet unsere Arbeit. Ein Hauptarbeitsbereich ist die Archivierung: Nachdem vorab geklärt ist, ob wir ein Tagebuch annehmen können, wird uns dieses übergeben oder zugesandt. Dann wird gezählt, gestempelt und Basisinformationen werden erhoben: Wer hat es geschrieben, wann, wie viele Seiten, was sind die Themen – sowas kommt in unsere Datenbank. So finden wir es später auch wieder. Das macht eine Gruppe, die sich jeden Donnerstag trifft. Ein zweiter großer Freiwilligenbereich betrifft die Transkription alter Schriften. Diese ‘Schriftkundigen‘ wohnen in ganz Deutschland verteilt. Sie bekommen von uns einen Scan vom Original zugesandt und transkribieren manuell. Inzwischen gibt es aber auch sechs Freiwillige, die für die Transkription mit KI arbeiten. Einige Freiwillige unterstützen auch bei der Bespielung unseres Instagram-Accounts. Des Weiteren gibt es die große Gruppe der Lesenden. Es gibt sogenannte Externe – ebenfalls verstreut in Deutschland wohnend – und zwei Vor-Ort-Lesegruppen in Emmendingen, die Tagebücher lesen und sich monatlich treffen. Sie füllen Erfassungsbögen aus, die sich an unseren Datenbankfeldern orientieren. So werden Inhalte verschlagwortet und zusammengefasst. Andere Freiwillige pflegen diese Ergebnisse in die Datenbank ein, die dann wiederum Grundlage für unseren anonymisierten Online-Katalog ist. Das sind zusätzlich zu Führungen, Lesungen, zur Digitalisierung und der Betreuung unseres kleinen Museums die wesentlichen Arbeitsfelder des Freiwilligen-engagements im DTA.

Wie ist die Zusammenarbeit mit den freiwillig Engagierten organisiert?

Marlene Kayen: Wir treffen uns seit vielen Jahren mit allen Vor-Ort-Engagierten einmal im Monat. Ganz wichtig für den Zusammenhalt ist, dass man in den Kaffeepausen zusammen-stehen und sich austauschen kann. Wir machen auch zweimal im Jahr Ausflüge zu Orten, die uns in unserer Arbeit weiterbringen. Wir waren zum Beispiel schon im neuen Stadtarchiv in Freiburg und im erzbischöflichen Archiv. Um neue Freiwillige zu gewinnen, laden wir auf unserer Webseite zur Mitarbeit ein und sind in der Mitmachbörse der Stadt Freiburg gelistet. Für eine Mitarbeit interessieren sich häufig Menschen, die frisch in Rente sind. Zusammen mit unseren Praktikant*innen – meist junge Erwachsene – die ihr eigenes Mindset mitbringen, ergibt das eine gute Mischung.

Wieso haben Sie den Citizen-Science-Ansatz gewählt?

Marlene Kayen: Wir haben ihn nicht explizit gewählt. Ich habe den Begriff im Nachhinein eingeführt, weil ich merkte, dass der Ansatz für uns passt und wir uns über ihn definieren können. Neben vielen helfenden Händen und der Freude an der Archivarbeit ist uns vor allem wichtig, dass alle den Sinn dahinter sehen – und sich mit dem, was wir tun, wirklich verbunden fühlen. Passend zum Citizen-Science-Gedanken ist es uns wichtig, das eigene Wissen weiterzugeben und Neue in die Archivarbeit zu integrieren.

Welche Fähigkeiten sollten Teilnehmende mitbringen und welche können sie bei Ihnen erlernen?

Marlene Kayen: Man muss ein genuines Interesse an Archivarbeit und an Menschen mitbringen. Außerdem sind Ausdauer und Durchhaltevermögen wichtig. Tagebuchlesen und -erfassen kann gelegentlich sehr langweilig sein, weil Vielschreiber*innen manchmal über Jahrzehnte immer wieder ein und dasselbe Lebensthema umkreisen. Es gibt aber natürlich auch sehr viele herausragende, spannende, erhellende, erschütternde oder humorvolle Texte. Ab und zu passiert es auch, dass sich Freiwillige beim Erfassen eines Tagebuchs mit der Autorin oder dem Autor so stark identifizieren, dass sie sich zum Beispiel fragen, warum sich an einem bestimmten Punkt in deren Leben nicht anders entschieden wurde. Ich sage immer, wenn ich ein Tagebuch aufschlage und anfange zu lesen, dann tritt mir ein Mensch entgegen, den ich entweder mag oder nicht. Um dann eine professionelle Erfassung zu machen, muss man unbedingt Distanz zum Text entwickeln. Ich habe selbst beim Transkribieren gemerkt, dass ich durch das Entziffern dermaßen nah an den betreffenden Menschen herankomme, dass ich manchmal traurig war, wenn das Tagebuch zu Ende war. Man muss ein Gespür dafür entwickeln, wie nah man den Inhalt an sich heranlässt – also interessiert bleiben, aber auch Abstand wahren. 

In der Citizen-Science-Strategie ist als Leitbild für 2030 verankert, dass unter anderem bei Archiven Citizen Science als Forschungs- und Transferansatz ein fester Bestandteil in den Leitbildern und im Selbstverständnis sein sollte. Kennen Sie weitere Archive, in denen partizipativ gearbeitet wird? Sind Sie im Austausch?

Marlene Kayen: Ja, der Austausch läuft auf europäischer Ebene und letztes Jahr war sogar eine Kollegin aus den USA bei uns zu Besuch. Wir sind Gründungsmitglied des European Diary Archives and Collections Network (EDAC), das es seit 2015 gibt. Das Netzwerk entstand in erster Linie aus dem Bedarf heraus, autobiografische Texte nicht prominenter Personen sichtbarer zu machen – denn diese wurden lange Zeit nicht als ernstzunehmende Quellen betrachtet – und zweitens aus dem Wunsch nach ‚best practice‘-Austausch. Fast in allen Mitgliedsarchiven wird partizipativ mit Freiwilligen gearbeitet. Der Kontakt zum italienischen Archiv, unserem Vorbild, war vor allem in den ersten Jahren sehr intensiv.  Bis vor dem Ukraine-Krieg waren wir auch mit dem "Prozhito" Centre of the St. Petersburg European University vernetzt. In den letzten Jahren pflegen wir engen Kontakt zum französischen Archiv, das schon knapp 10 Jahre älter ist als wir, und auch in die Niederlande zum Expat Archive Centre in Den Haag und dem Dagboekarchief in Amsterdam. Auf dem diesjährigen Treffen des Netzwerkes geht es zum Beispiel um Juristisches, wie Copyright, Persönlichkeitsschutz, Autorenrechte, Nutzungsrechte usw. – da wird sich ja auf europäischer Ebenen um eine Vereinheitlichung bemüht, aber trotzdem müssen viele Einzelfälle besprochen werden.

Würden Sie andere Institutionen ermutigen, auch partizipative Formate zu entwickeln?

Marlene Kayen: Also die Frage stellt sich mir überhaupt nicht, weil ich das selbstverständlich finde. Partizipation ist entscheidend für die Identifikation mit der Freiwilligenarbeit und somit für eine erfolgreiche Teamarbeit. 

Auf der DTA-Website ist angegeben, dass aktuell 26,5 Prozent des Gesamtbestandes digitalisiert ist. Welche Rolle spielen die Digitalisierung und vielleicht auch die KI-gestützte Handschrifterkennung für Ihre Arbeit? 

Marlene Kayen: Zur angegebenen Prozentzahl möchte ich noch ergänzen, dass nicht alle Digitalisate per Volltextsuche durchsuchbar sind, weil natürlich auch handschriftliche Tagebücher als Scan vorliegen. Insgesamt hat uns die Pandemie einen ordentlichen Schub in Sachen Digitalisierung gegeben. Gerade im ersten Coronajahr hatten wir sehr viele Forschungsanfragen, weil manche zu Hause saßen und die Gelegenheit nutzten, ihre Arbeiten fertigzuschreiben. Einen weiteren Fortschritt konnten wir in den letzten vier Jahren dank Professor Achim Rabus von der Uni Freiburg machen. Dieser betreute ein Forschungsprojekt zum Bereich der Handschriftenerkennung und bat uns um Scans von Kurrent- und Steno-Tagebüchern. In seinem Forschungsprojekt wurde Transkribus genutzt, ein KI-gestütztes Programm zur Texterkennung. Das hat bei uns einen Stein ins Rollen gebracht. Durch eine junge Freiwillige, die in diesem Projekt einen Werkvertrag bekam, konnten wir in überschaubarer Zeit 99 Tagebücher einer einzelnen Autorin transkribieren. Es ist generell eine Herausforderung für ein Freiwilligen-Team, neue Tools zu integrieren und die Arbeitsweisen entsprechend anzupassen. Aber es hat funktioniert und es ist schon sehr viel daraus entstanden. Es haben sich zum Beispiel ‚einfach so‘ Leute gemeldet, die Lust hatten, mit KI zu transkribieren und es ist ein ‚Transkribus-Grüppchen‘ entstanden. Wir haben aus der Frühzeit der Sammeltätigkeit noch Bestände, die weder gescannt noch erschlossen sind. Ich erhoffe mir, dass wir in der Zukunft mit technischer Unterstützung da ein gutes Stück weiterkommen und finde das total faszinierend.

Dafür wünsche ich Ihnen alles Gute. Vielen Dank! 


Dieser Beitrag ist Teil unserer Blogreihe „Bibliotheken & Archive"

Leonie Malchow

Leonie ist über die Welt der Engagement- und Demokratieförderung bei der Citizen Science gelandet. Im Team ist sie für Projektmanagement und Kommunikation zuständig.