Keynote-Speakerin Marina Beermann: „Citizen Science bricht isoliertes Denken auf”
Dr. Marina Beermann ist Geschäftsführerin von Cociety, einem Netzwerk von gemeinnützigen, zivilgesellschaftlichen Organisationen mit dem Ziel, gesellschaftliche Resilienz zu stärken. Als Keynote-Speakerin beim Forum Citizen Science 2024 wird sie die Konferenz-Teilnehmenden auf das diesjährige Motto „Mit:Wirkung” einstimmen. Wir haben mit ihr über die Rolle von Citizen Science für eine resiliente Gesellschaft und den Nutzen einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft gesprochen.
Frau Beermann, was bedeutet gesellschaftliche Resilienz für Sie? Und warum brauchen wir diese?
Beermann: Resilienz ist die Fähigkeit von Systemen, mit Krisen und abrupten Veränderungen so umgehen zu können, dass das jeweilige System nicht kollabiert. Für uns ist eine resiliente Gesellschaft eine, die es schafft, die verschiedenen Herausforderungen und Krisen auf demokratische Weise zu meistern. Dafür muss in soziale Ressourcen wie ein funktionierendes gesellschaftliches Miteinander, aber auch in ökologische Ressourcen und deren Regenerationsfähigkeit investiert werden. In der systemischen Theorie spricht man von Puffer-Kapazitäten. Es fehlt unserer Gesellschaft an einem lösungsorientierten Miteinander und an einer Bereitschaft, sich auch verändern zu wollen, um den multiplen Krisen und Umbrüchen unserer Zeit gerecht zu werden. Wir sehen eine zunehmende Polarisierung, Spaltung und auch Schwächung unserer Demokratie. Hier wollen wir mit Cociety ansetzen.
Welche Rolle könnte Citizen Science für und in einer resilienten Gesellschaft spielen?
Beermann: Citizen Science und Wissenschaft im Allgemeinen sind unverzichtbar. Wir brauchen Daten, Fakten und ein besseres Verständnis für die komplexen Sachverhalte, mit denen wir konfrontiert sind, wie Klimawandel, Verlust der Biodiversität, Migration, Digitalisierung und demografischer Wandel. Gesellschaftlich benötigen wir drei Schritte: Erstens ein Problembewusstsein für zentrale Themen, zweitens wirkungsvolle Maßnahmen, die nachweislich Veränderungen bewirken, und drittens konsensfähige Entscheidungen, die dann auch umgesetzt werden. Citizen Science kann in all diesen Schritten einen wichtigen Beitrag leisten, da sie durch die Vielfalt der Methoden und die Einbindung von unterschiedlichen Akteur*innen eine hohe Legitimation des Prozesses und der Ergebnisse schafft.
Ihre Keynote beim Forum Citizen Science trägt den Titel „Ausweg aus der Bubble? Citizen Science als hoffnungsvoller Innovationstreiber”. Auf welche Bubble spielen Sie hier an?
Beermann: „Bubble" meint grundsätzlich ein isoliertes Denken oder Silo-Denken. Eine Grundvoraussetzung für Resilienz ist wie gesagt Offenheit und Bereitschaft zur Veränderung – also Transformationsfähigkeit. Bleibt man in seiner Bubble, behindert das die Entwicklung von Resilienz. Wir alle bewegen uns meist in unseren Bubbles – ob privat, wo wir uns mit Menschen ähnlicher Interessen und Werte umgeben, oder beruflich, in Gruppen mit ähnlichen Hintergründen. Auch in der Wissenschaft existiert dieses Phänomen.
Wie kann Citizen Science diese Bubble durchbrechen und Innovation fördern?
Beermann: Ich sehe Citizen Science als eine Art Speerspitze im Bereich der offenen Wissenschaft. Es gibt eine klare Notwendigkeit für eine stärkere Vernetzung zwischen Gesellschaft und Wissenschaft, um das Verständnis und die Legitimation von Wissenschaft zu fördern. Citizen Science bricht isoliertes Denken auf, indem es die Wissenschaft durch die Einbindung vielfältiger Akteur*innen und Impulse für neue Perspektiven öffnet. Innovation entsteht selten auf Knopfdruck. Oft entwickelt sie sich aus Fehlern, die unerwartet zu Erfolgen führen, oder durch externen Druck wie Krisen, die Veränderungen erzwingen. Manchmal entsteht Neues, wenn man scheinbar unpassende Menschen oder Ideen zusammenbringt. Die Citizen Science bietet mit ihrem breiten Spektrum an Forschungs- und Partizipationsansätzen einen Nährboden, der Innovation möglich machen kann. Citizen Science ermöglicht neue Kooperationen zwischen Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und einzelnen Bürger*innen.
Im Rahmen des Formats CoSaturday organisieren Sie Begegnungen von Bürger*innen mit Fachleuten, die zu Herausforderungen gesellschaftlicher Konflikte und Transformation in den Dialog treten. Welche Idee steckt dahinter?
Beermann: Hinter dem Projekt steckt ein explorativer Ansatz, da die Förderung kollektiver Resilienz wissenschaftlich noch wenig erforscht ist. Die CoSaturdays sind eintägige Veranstaltungen, bei denen wir gesellschaftliche Konfliktfelder aufgreifen, in denen es unseres Erachtens an Dialog fehlt. Dabei bringen wir Menschen zusammen, die normalerweise nie miteinander sprechen würden und die vielleicht auch gar kein Interesse hätten, das zu tun und nur kommen, weil sie eine monetäre Incentivierung für die Teilnahme am Projekt erhalten. Bei der ersten Ausgabe der CoSaturdays haben wir uns dem Thema Fleischkonsum- und produktion gewidmet und im Oktober wird es um Integration gehen. Zu den Themen führen wir bei unseren Veranstaltungen moderierte Gruppendiskussionen durch, bei denen wir verschiedene Methoden anwenden, zum Beispiel World Cafés, Fishbowl-Diskussionen und Strategische Vorausschau, auch bekannt als Foresight.
Wie wurden die Teilnehmenden für das Projekt ausgewählt?
Beermann: Unser Panel besteht aus 100 Teilnehmenden aus Hamburg, die nach bestimmten soziodemografischen Kriterien ausgewählt wurden, wie Haushaltsnettoeinkommen, Alter, Geschlecht, Bildungshintergrund, Wahlverhalten, Migrationshintergrund und Wohnort, also Stadt oder ländlicher Raum. Wir haben eine Agentur beauftragt, die unsere Teilnehmenden so rekrutiert hat, dass sie in Bezug auf die genannten Kriterien repräsentativ die Hamburger Bevölkerung abbilden. Die Teilnehmenden wussten anfangs nur, dass sie Teil einer zweijährigen sozialwissenschaftlichen Langzeitstudie sind, an eintägigen Veranstaltungen teilnehmen und dafür eine monetäre Vergütung erhalten. Dieser Ansatz war bewusst gewählt, um auch Menschen einzubeziehen, die sich normalerweise nicht mit unseren Themen beschäftigen würden. So haben wir eine Gruppe zusammen bekommen, die in ihren Einstellungen, Meinungen und Lebensrealitäten äußerst unterschiedlich ist.
Es gibt eine Begleitforschung zum Projekt. Was wird da genau untersucht und wie?
Beermann: Wir haben einen Control- and-Treatment-Ansatz gewählt, um im gegebenen Projektrahmen möglichst robuste Ergebnisse zu erhalten. Dazu haben wir die 100 Personen aus unserem Panel in zwei Gruppen aufgeteilt, wobei jede Person einen „soziodemografischen Zwilling“ in der jeweils anderen Gruppe hat. 50 Personen erhalten das „Treatment“ – also die Teilnahme an den eintägigen Veranstaltungen –, während die andere Gruppe als Kontrollgruppe fungiert und kein Treatment erhält, ähnlich wie bei einer Medikamentenstudie mit Placebos. Beide Gruppen werden regelmäßig durch einen von uns entwickelten Fragebogen evaluiert. So hoffen wir, aussagekräftige Ergebnisse über die Wirkung der CoSaturdays zu erhalten.
Welche Potenziale sehen Sie in einer verstärkten Zusammenarbeit von Wissenschaft und Zivilgesellschaft?
Beermann: Ich denke, die Zivilgesellschaft könnte stark davon profitieren, enger mit der Wissenschaft zusammenzuarbeiten. In der Wissenschaft liegt der Fokus auf einem methodisch sauberen, ergebnisoffenen Prozess. So ein Vorgehen könnte auch für zivilgesellschaftliches Handeln sehr wertvoll sein – vor allem, wenn es darum geht, wirkungsorientiert zu agieren. Umgekehrt kann auch die Wissenschaft von einer engeren Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft profitieren. Die Wissenschaft hat oft Schwierigkeiten, ihre Erkenntnisse in eine verständliche Sprache und umsetzbare Maßnahmen zu übersetzen. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind darin häufig besser, weil sie näher an den tatsächlichen Problemlagen dran sind und genauer wissen, wo der jeweilige Handlungsbedarf liegt.
Was können Wissenschaftler*innen dabei noch von Akteur*innen aus dem Nonprofit-Bereich lernen?
Beermann: Zum einen könnten Wissenschaftler*innen lernen, weniger Berührungsängste zu haben, sich direkt mit den Menschen und Aufgaben in den empirischen Feldern auseinanderzusetzen. Gerade für Citizen-Science-Projekte ist die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Denklogiken zu übersetzen, eine Erfolgsvoraussetzung. Außerdem sollten Wissenschaftler*innen sich darüber bewusstwerden, dass auch sie in einer eigenen „Bubble" agieren, und sich auf den Auftrag von Wissenschaft, einen gesellschaftlichen Mehrwert zu schaffen, besinnen. Damit meine ich nicht, dass Grundlagenforschung vernachlässigt werden sollte, sondern dass man sich darüber im Klaren sein sollte, zu welchen konkreten gesellschaftlichen Problemen man einen Beitrag leisten will, um die eigenen Tätigkeiten mehr daran auszurichten.