Wie beeinflusst Citizen Science die Scientific Literacy der Teilnehmer*innen?
In Citizen-Science-Projekten werden im besten Fall nicht nur Daten in Zusammenarbeit zwischen Forscher*innen und Bürger*innen erhoben und ausgewertet - sie sollen darüber hinaus auch zu einem Wissenszuwachs bei den Teilnehmer*innen beitragen und sie zu wissenschaftlichem Handeln, Bewerten und Wissen befähigen. Doch was wissen wir über die Effekte auf das wissenschaftliche Verständnis und die wissenschaftliche Befähigung - die Scientific Literacy - von Bürger*innen in Citizen-Science-Projekten?
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Das Vorgehen
In den bisherigen Blogbeiträgen haben wir uns mit bereits veröffentlichten Reviewstudien befasst. In diesem Blogbeitrag berichten wir nun über die Ergebnisse unserer eigenen Literaturrecherche, mit der wir die relevantesten Studien und Ergebnisse zu bestimmten Aspekten der Wirkungsforschung zu Citizen Science präsentieren möchten.
In diesem Blogbeitrag wird betrachtet, wie sich die Teilnahme an einem Citizen-Science-Projekt auf die Scientific Literacy der Teilnehmer*innen auswirkt. Hierunter wird vor allem die Fähigkeit verstanden, wissenschaftliches Arbeiten zu verstehen und durchzuführen, Ergebnisse einzuordnen, Fragen zu stellen und zu lernen. Sie wird weiterhin unterteilt in die Dimensionen des Wissens, des Handelns und des Wertens und wird als integraler Bestandteil der gesellschaftlichen Bildung und des Leben verstanden (Gräber 1999).
Im Dezember 2020 haben wir in der Literaturdatenbank Scopus nach relevanten Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Journals gesucht. Dabei ergab die Suche mit den Stichworten “Citizen Science” und “Scientific Literacy” (Boolesche Suche) zunächst insgesamt 1199 Treffer. Diese Beiträge wurden nach ihrer Zitationshäufigkeit sortiert mit dem Ziel, die am häufigsten zitierten relevanten Artikel auszuwählen. Anhand der Abstracts wurde die obersten 500 Beiträge gescannt und zunächst gefiltert, ob die Veröffentlichung einen Citizen-Science-Bezug hat, weil sie sich etwa selbst dem Ansatz zuordnet und nicht gegen die Definition aus dem Grünbuch verstößt (Bonn et al. 2016). Anschließend wurde geprüft, ob sie zum Stichwort passt und ob sie in unsere Betrachtung aufgenommen wird. Als relevant galten dabei Paper, die sich auf empirischer Ebene mit der Wirkung von Citizen-Science-Projekten auf die Scientific Literacy ihrer Teilnehmer*innen befassen und eigene Ergebnisse berichten. Theoretische Ansätze oder Konzeptualisierungen wurden also ausgeschlossen. Zudem wurden Paper ausgeschlossen, die wir in kommenden Blogbeiträgen unter anderer Schwerpunktsetzung behandeln werden. Darunter fallen zum Beispiel die Studien von Johnson et al. (2014) und Forrester et al. (2017) (im Beitrag 7 zu Einstellungen) sowie Dean et al. (2018) (im Blogbeitrag 8 zum Verhalten). Auch Artikel, die wir im Rahmen dieser Blogreihe bereits vorher aufgeführt haben, werden nicht erneut vorgestellt. Es handelt sich hierbei hauptsächlich um Beiträge rund um Lernen in Biodiversitätsprojekten (Haywood et al. 2016, Cosquer et al. 2012) und in Onlineprojekten (Price und Lee 2013, Jennett et al. 2016, Masters et al. 2016). Im Anschluss haben wir als Ergänzung mithilfe einer Google-Scholar-Suche mit den gleichen Stichworten gezielt nach relevanten Veröffentlichungen geschaut, die in der Scopus-Recherche vernachlässigt wurden, da sie entweder später erschienen und/oder seltener zitiert wurden.
Die Studien
Die folgenden sechs Studien sind die meistzitierten bisher nicht genannten Studien aus der Scopus-Recherche:
- Evans et al. (2005)
- Brossard et al. (2005)
- Cronje et al. (2011)
- Crall et al. (2012)
- Johnson et al. (2014)
- Land-Zandstra et al. (2016)
- Ballard et al. (2017)
- Kelemen-Finan et al. (2018)
Der folgende Beitrag wurde als Grundlage nach Sichtung der Beiträge der Scopus-Recherche aus der in den ausgewählten Artikeln zitierten Literatur ergänzt:
- Trumbull et al. (1999)
Aus der Google-Scholar-Recherche nach Studien mit Veröffentlichung nach 2020 wurde dieser Beitrag ergänzt, um aktuelle Artikel zu erfassen:
- Queiruga-Dios et al. (2020)
Der folgende Beitrag wurden in einer Google-Scholar-Recherche ohne Zeitraumpräzisierung gefunden und ergänzt, um weitere interessante Artikel zu erfassen:
- Cronin und Messemer (2013)
Die Ergebnisse
Die ausgewählten Studien untersuchen mit unterschiedlichen Instrumenten und Methoden verschiedene Aspekte im Kontext der Scientific Literacy und des projektbezogenen Wissens und bauen dabei zum Teil auch aufeinander auf. Daher gehen wir bei der Vorstellung chronologisch vor und geben zum Schluss einen kleinen Ausblick.
In unserer Grafik haben wir die Studienergebnisse veranschaulicht und vereinfacht zusammengefasst. Ihr findet zudem eine kurze zusammenfassende Darstellung zu jeder Studie unter der Grafik, um einen Überblick über das Feld zu geben.
Übersicht der Studienergebnisse zu Outcome-Aspekten auf die Scientific Literacy durch die Teilnahme an Citizen-Science-Projekten (Designumsetzung: Tabea Martin)
Deborah Trumbull und Kolleg*innen (1999) erfassten die Selbsteinschätzung der Teilnehmer*innen des Projekts Seed Preference Test des Cornell Lab of Ornithology mit zwei Fragebogenverfahren vor (n=372) und nach Teilnahme (n=337). Es zeigte sich kein Unterschied im Wissen über Wissenschaft zwischen Teilnehmenden, die aktiv Daten beigetragen haben, und jenen, die keine Daten beigetragen haben. Die Fragebögen ließen aufgrund ihres Design keinen Vorher-Nachher-Vergleich zu. Im Anschluss wurden daher 750 Briefe, die Teilnehmer*innen den Projektmitarbeiter*innen geschrieben hatten, analysiert. In der überwiegenden Mehrheit der Briefe fanden die Autor*innen Hinweise darauf, dass sich die jeweiligen Teilnehmer*innen mit wissenschaftlichen Fragestellungen befasst haben: In 40 % der Briefe wurden Beobachtungen geschildert, in 30 % wurden darüber hinaus eigene Hypothesen gebildet, die die gemachten Beobachtungen erklären sollten. Wenn also auch keine direkten Lerneffekte nachzuweisen sind, sei doch ein Prozess des wissenschaftlichen Nachdenkens über das Projekt angeregt worden.
Celia Evans und Kolleg*innen (2005) führten eine Umfrage, Interviews und Analysen von E-Mail-Texten von Teilnehmer*innen des Projekts Neighbourhood Nestwatch durch. In der Umfrage gaben 87% der Befragten an, durch Projektteilnahme Wissenszuwachs über Vögel und Verhalten erlangt zu haben, 43% sahen sich in der Lage, neue Vogelarten zu identifizieren, 20% gaben einen generellen Wissenszuwachs über die Tierwelt an. Zudem empfanden über drei Viertel der Befragten ihr Umweltbewusstsein als gesteigert (83%). Gleichzeitig gaben aber 44 % der Befragten an, das Ziel des Projekts und die Nutzung der eingereichten Daten nicht verstanden zu haben. Evans und Kolleg*innen kommen also zu gemischten Ergebnissen - und folgern, dass besonders das initiale Interesse an einer Teilnahme sowie die Interaktionen mit den Wissenschaftler*innen wichtige Einflussfaktoren für den Wissenszuwachs der Teilnehmer*innen sind.
Auch Dominique Brossard und Kolleg*innen (2005) befassten sich mit der Wirkung der Teilnahme an einem Projekt des Cornell Lab of Ornithology. Sie führten ein Vorher-Nachher-Fragebogenverfahren im Kontrollgruppendesign (n=798) mit Teilnehmer*innen der Feldphase des Projekts The Birdhouse Network durch. Dabei erfasste der Fragebogen auch das Verständnis des wissenschaftlichen Prozesses und das Wissen über die Biologie von Vögeln. Es konnten zwar keine statistisch signifikanten Veränderungen im allgemeinen Verständnis wissenschaftlicher Prozesse festgestellt werden, das Wissen über die Biologie von Vögeln konnte hingegen gesteigert werden.
Ruth Cronje und Kolleg*innen (2011) kommen zu dem Schluss, dass der Kontext des jeweiligen Projekts stärker bei der Messung der Wirkung auf die Scientific Literacy betrachtet werden muss. Sie kombinierten verschiedene Messinstrumentitems anderer Studien und entwickelten so ein Instrument, dass spezifische Schritte des Projekts - in diesem Falle ein Projekt zum Monitoring invasiver Pflanzenarten - einbezieht. So soll gemessen werden, ob und wie sich das Verständnis von diesen projektspezifischen Schritten im wissenschaftlichen Prozess verändert. Dadurch wollen Cronje und Kolleg*innen die Contextual Scientific Literacy erfassen. In einem Pilottest mit Kontrollgruppendesign (n=147) fanden sie heraus, dass sich der durchschnittliche Contextual-Scientific-Literacy-Score signifikant nach Teilnahme an einem Schulungsevent erhöht. Für den Score wurde beispielsweise das Verständnis des Zwecks der Datenerhebung und der Datenintegrität und möglicher Faktoren der Datenverunreinigung erhoben.
David Cronin und Jonathan Messemer (2013) haben Teilnehmer*innen des Research River Biomonitoring Stream Assessment-Projekts in den USA nach Teilnahme über selbst beobachtete Lerneffekte befragt. Unter den 16 Menschen, die den Fragebogen beantworteten, stellen Cronin und Messemer Verbesserungen im wissenschaftlichen Vokabular und im Verständnis des wissenschaftlichen Prozesses fest und leiten daraus ab, dass Citizen Science ein erfolgreiches Mittel sei, um die Scientific Literacy erwachsener US-Amerikaner*innen zu verbessern.
Alycia Crall und Kolleg*innen (2012) schlossen an Ergebnisse und Instrumente von Cronje und Kolleg*innen an und prüften in einem Vorher-Nachher-Kontrollgruppendesign (n=166) die Wirkung des Vorbereitungstrainings für ein Projekt des National Institute of Invasive Species Science. Sie fanden heraus, dass die Teilnehmer*innen nach dem Training zwar noch immer nicht in ausreichender Weise wissenschaftliche Studien erklären konnten, sich ihr Verständnis der konkreten Forschungsfrage und der Datenauswahl im Projekt aber signifikant verbessert hatten. Somit konnten sie, wie Cronje und Kolleg*innen, eine signifikante Verbesserung der kontextualisierten Scientific Literacy feststellen.
McKenzie Johnson und Kolleg*innen (2014) untersuchen neben Motivationsfaktoren inwieweit sich die Teilnahme an zwei Biodiversitätsprojekten des Centre for Wildlife Studies und der Wildlife Conservation Society in Bangalore in Indien auf die Teilnehmer*innen auswirkt. Sie nutzen dafür einen explorativen Methodenmix - bestehend aus einer Online-Umfrage (n=115), einer Fokusgruppensession (n=8) und informellen Interviews (n=4) mit Teilnehmer*innen sowie geschriebenen Statements von drei Mitarbeiter*innen des Projekts. Die Mehrheit (61%) der Befragten gab so an, neue Fähigkeiten (z.B. Datensammlungsmethoden oder Säugetierbestimmung), neues Wissen oder ein verbessertes wissenschaftliches Verständnis durch das Projekt gewonnen zu haben. Zudem gab ca. die Hälfte der Befragten (45%) an, ihre individuellen Bildungsziele durch das Projekt geändert zu haben und 35% suggerierten, bereits Schritte in Richtung eines Karrierewechsels unternommen zu haben. Johnson und Kolleg*innen folgern so, dass Citizen-Science-Projekte wichtige gesellschaftliche Einflüsse ausüben und sichern können.
Heidi Ballard, Colin Dixon und Emily Harris (2016) untersuchten mit Fallstudien in zwei Biodiversitätsprojekten - LiMPETS und EBAYS - in Kalifornien/USA neben anderen Aspekten inwieweit die jugendlichen Teilnehmer*innen sogenannte Environmental Science Agency (ESA) entwickelten. Hierunter verstehen Ballard und Kolleg*innen einerseits wissenschaftliches Verständnis vom Thema und den genutzten Methoden, aber auch ein Gefühl der Identifizierung mit den Projektpraktiken sowie ein Verhältnis zum Ökosystem. Hierfür führten sie semistrukturierte Interviews vor und nach Teilnahme am Projekt mit Teilnehmer*innen und Koordinator*innen, teilnehmende Beobachtungen und Analysen der von den Teilnehmer*innen gesammelten Daten und Präsentationen durch und konzentrierten sich dabei hauptsächlich auf Datensätze zu bzw. von neun teilnehmenden Jugendlichen. Dabei stellten Ballard und Kolleg*innen fest, dass a) alle neun Jugendlichen in unterschiedlichem Maße Fähigkeiten und Wissen erwarben und anwendeten; b) acht der neun Jugendlichen sich in einer Expert*innenrolle wahrnehmen konnten und c) einige Jugendliche einen Zusammenhang zwischen dem Projekt im Einzelnen und der Umwelt im Gesamten ausmachen und verstehen konnten. Dabei konnte sich laut der Autor*innen eine Environmental Science Agency am ehesten bei Jugendlichen den Projekten ausbilden, die die Bedeutung korrekter Datensammlungs- und -analyseprozesse vermittelten, die das Teilen eigener wissenschaftlichen Ergebnisse unterstützen und die komplexe sozio-ökologische Zusammenhänge betrachteten. Ballard und Kolleg*innen folgern daraus, dass Citizen-Science-Projekte ein nützliches Werkzeug zur Steigerung von Kompetenzen Jugendlicher sein können, sie müssten allerdings in ihrem Design, ihren Aufgaben und ihrer Praxis dementsprechend gestaltet sein.
Anne Land-Zandstra und Kolleg*innen (2016) kamen bei ihrer Onlinefragebogenstudie (n=1123) mit Teilnehmer*innen des Datensammlungsprojekts iSPEX in den Niederlanden zu gemischten Ergebnissen: So gab zwar die Mehrheit der Befragten an, etwas über den Beitrag von Citizen Science zum Wissenschaftsfeld und über das Projektthema der Aerosole gelernt zu haben. Gleichzeitig wurden jedoch 5 von 7 spezifischen Fragen über das Projekt von der Mehrheit der Befragten falsch beantwortet. Land-Zandstra und Kolleg*innen vermuten, dass die Forschung und die Ergebnisse des Projekts nicht verständlich erklärt worden seien und insgesamt durch ihre Komplexität Verständnisschwierigkeiten für die Citizen Scientists entstünden.
Zwei der Beiträge befassten sich mit der Zielgruppe der Schüler*innen: So maßen Julia Kelemen-Finan und Kolleg*innen (2018) in einer Vorher-Nachher-Survey-Untersuchung die individuellen Lernoutcomes nach Phillips et al. (2018) der Teilnehmenden (n=309) durch das Wiener Biodiversitätsprojekt “Nature in your backyard - Citizen Science with schools”. Sie stellten signifikante Verbesserungen in allen Bereichen - auch dem wissenschaftlichen Selbstwirksamkeitsgefühl - fest. Dieser Beitrag befasst sich zwar nicht ausdrücklich mit der Scientific Literacy, zeigt aber spannende Tendenzen über die Wirkung von Citizen Science in der Schule auf.
Miguel Àngel Queiruga-Dios und Kolleg*innen (2020) untersuchten Citizen Science mit Schüler*innen und führten Vorher-Nachher-Befragungen mit Teilnehmer*innen (n=83) des spanischen Projects AQUA durch. Auch wenn sie direkt keinen Zuwachs an wissenschaftlichem Verständnis oder wissenschaftlichen Fähigkeiten durch die Teilnahme am Projekt erfassten, konnten Queiruga-Dios und Kolleg*innen doch eine positive Veränderung in der Wahrnehmung von wissenschaftlichen Akteur*innen und Prozessen feststellen.
Der Ausblick
Bezogen auf die Dimensionen von Scientific Literacy (Gräber 1999), scheinen, laut unserer Recherche, sich die meisten Studien die Dimension des Wissens anzusehen. Es sind zusammenfassend durchaus einzelne Belege für den Zuwachs an Wissen über Wissenschaft, zumindest aber für die Auseinandersetzung mit Wissenschaft erkennbar. Deutlicher lassen sich in den Untersuchungen Verbesserungen des projektbezogenen (Fach-)Wissens erkennen.
Bisher wurden besonders Einzelstudien durchgeführt, was im Kontext der vielschichtigen Citizen-Science-Landschaft natürlich sinnvoll und legitim ist. Es besteht aber Bedarf an Metaanalysen, vergleichenden oder projektübergreifenden Studien und einer Entwicklung und Vergleichbarkeit von Messinstrumenten zum Wissen über Wissenschaft. Auf diesen Punkt verweisen auch Bonney und Kolleg*innen (2015) in einem Reviewpaper über die Potentiale der Verbesserung des öffentlichen Wissenschaftsverständnisses durch Citizen Science: Neben Ansatzpunkten auf der Projekt(design)ebene regen sie an, Evaluationskapazitäten zu erhöhen und Tools und Methoden weiterzuentwickeln, um die Forschung insgesamt voranzubringen und zu reflektieren.
Im nächsten Blogbeitrag befassen wir uns mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen, die über die Auswirkungen einer Teilnahme in Citizen-Science-Projekten auf das naturwissenschaftliche Verständnis der Teilnehmer*innen (Nature of Science) vorliegen.
Literatur:
Ballard, H.L., Dixon, C.G.H., & Harris, E.M. (2017). Youth-focused citizen science: Examining the role of environmental science learning and agency for conservation. Biological Conservation 208, 65-75. DOI: https://doi.org/10.1016/j.biocon.2016.05.024.
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