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„Es war toll zu sehen, wie sich Räume des Empowerments für die Mitforschenden geöffnet haben“ – Nachgeforscht bei Derya Yildirim von Nürnberg forscht

Delmaine Donson / Getty Images Signature / Canva

In dem Projekt „Nürnberg forscht” untersuchen Bürger*innen mit Zuwanderungsgeschichte die Themen Migration und Integration. Warum der Citizen-Science-Ansatz für dieses Projekt besonders geeignet ist, welche Ziele das Projekt verfolgt und welche Erfahrungen bisher gemacht wurden, erklärt Projektkoordinatorin Derya Yildirim von der Stadt Nürnberg.

Worum geht es im Projekt „Nürnberg forscht”?

Yildirim: Bei „Nürnberg forscht” laden wir zugewanderte Menschen dazu ein, das Integrationsgeschehen in Nürnberg wissenschaftlich zu erforschen. Unsere Citizen Scientists haben dabei die Möglichkeit, Fragestellungen zu bearbeiten, die aus ihrer eigenen Lebenswelt und persönlichen Migrationsgeschichte entspringen und ihr Leben hier in Nürnberg direkt oder auch indirekt beeinflussen. Das Projekt ist offen gestaltet, aber die Fragestellungen müssen einen Bezug zur Stadt Nürnberg haben und die Themen Migration und Integration behandeln. 

Was ist das Ziel des Projekts?

Yildirim: Nürnberg zeichnet sich durch eine sehr diverse Gesellschaft aus. Knapp 51% der Einwohner*innen haben eine sogenannte Zuwanderungsgeschichte. Migrations- und Integrationsthemen sind extrem wichtig für die Stadt. Unser Ziel ist es, das individuelle und migrationsspezifische Vorwissen der Citizen Scientists als wertvolle Ressource in den Forschungsprozess einzubinden. Was beschäftigt die Menschen? Wie nehmen sie die Stadt wahr, in der sie leben? Bei unserem Projekt geht es nicht nur um die gemeinsame Entwicklung und Bearbeitung von Fragestellungen, sondern auch darum, die Forschungsergebnisse für die Stadtverwaltung nutzbar zu machen. Es geht darum, neue Perspektiven einzubringen und die Teilhabe Zugewanderter sichtbar zu machen, Bedarfe zu identifizieren, Vorurteile abzubauen und die Stadtgesellschaft für die Themen Migration und Integration zu sensibilisieren. 

Teilnehmende präsentiert Plakat.
Foto: Stadt Nürnberg, Bildungsbüro 

Warum haben Sie sich für einen Citizen-Science-Ansatz entschieden?

Yildirim: Wir haben uns für Citizen Science entschieden, weil dieser Ansatz die aktive Beteiligung von Bürger*innen ermöglicht und ihre alltägliche Lebenswelt direkt in den Forschungsprozess einbindet. Das Wissen der Teilnehmenden fließt unmittelbar in die wissenschaftliche Arbeit ein, was uns unglaublich praxisnahe Forschungsergebnisse bietet. Was bedeutet es, in ein neues Land, eine neue Stadt zu kommen und von null anzufangen? Ein Land, in dem man die Sprache nicht spricht, seine Abschlüsse nicht anerkannt bekommt? Diese Perspektiven sind für uns total wichtig. Dadurch erschließen wir einerseits zusätzliche Daten und gleichzeitig wird das Interesse und Vertrauen der Bevölkerung in wissenschaftliches Arbeiten gesteigert. 

Wer kann bei „Nürnberg forscht” mitmachen und wie sind die Mitforschenden eingebunden?

Yildirim: Mitmachen kann jede Person mit Zuwanderungsgeschichte ab 18 Jahren, die Interesse am Thema Integration in Nürnberg hat. Die wichtigste Qualifikation ist die eigene Lebens- und Zuwanderungserfahrung und das Alltagswissen als Nürnberger*in. Wir bemühen uns, unsere Forschungstreffen möglichst niedrigschwellig und in einfachem Deutsch durchzuführen, damit alle mitkommen. Dennoch ist ein gewisses Sprachniveau von Vorteil. Unsere Citizen Scientists können in allen Phasen des Forschungsprozesses mitwirken – von der Entwicklung der Forschungsfrage bis zur Datenerhebung, Auswertung und Präsentation der Ergebnisse.

Gruppenbild
Foto: Stadt Nürnberg, Bildungsbüro 

Wie genau sieht der Ablauf des Projekts aus?

Yildirim: Wir arbeiten in vier unabhängigen Forschungsblöcken, die jeweils etwa sechs Monate dauern. Jede Einheit hat einen eigenen inhaltlichen Schwerpunkt. Bisher haben wir die Themen Rassismus und seelische Gesundheit von Frauen mit Zuwanderungsgeschichte erforscht. Zwei weitere Einheiten werden noch kommen. Nach jeder Forschung erarbeiten wir einen Bericht, in dem wir Herausforderungen identifizieren und Impulse für mögliche Lösungen geben.

Der Bericht der ersten Runde liegt bereits vor und die zweite Runde ist bald abgeschlossen. Welche positiven Effekte hatte die Einbindung der Citizen Scientist?

Unsere Citizen Scientists haben eine viel stärkere Bindung zu den Communities. Es macht einen großen Unterschied, wer ein Interview mit Betroffenen führt: Jemand  aus der Stadtverwaltung oder eine Person, die selbst betroffen ist. Da sind die Interviewten viel offener, denn dieser Person gegenüber müssen sie sich nicht erklären. So erlangen wir Erkenntnisse, zu denen wir sonst keinen Zugang haben und die wir an die zuständigen Dienststellen weitergeben können, um gezielte Maßnahmen zu entwickeln. Außerdem ist auch das Gefühl der Teilhabe und Mitgestaltung ein sehr positiver Effekt, der Dialog zwischen der Kommune und der Gesellschaft. Dass die Teilnehmenden merken: Ich werde nach meiner Meinung gefragt, ich kann teilhaben, ich kann meine Erfahrungen weitergeben.  Diese Wertschätzung ist unglaublich wichtig!

Welche Herausforderungen haben Sie bisher im Projekt erlebt?

Yildirim: Eine der größten Herausforderungen ist der zeitliche Aspekt. Für die Forschungseinheiten haben wir bisher länger als ein halbes Jahr gebraucht. Im Nachhinein würden wir uns dafür wahrscheinlich mehr Zeit nehmen. Ein zweiter Punkt ist die Themenwahl. Bei den ersten beiden Einheiten waren die Gruppen völlig frei in der Auswahl. Jede Forschungsgruppe besteht aus Menschen mit unterschiedlichen Wissensständen und Erfahrungen. Deshalb hatten wir ursprünglich geplant, mehr externe Referent*innen für wissenschaftliche Inputs einzuladen. Dadurch, dass das Thema jeweils spontan festgelegt wurde, stellte es sich jedoch als schwierig heraus, kurzfristig Expert*innen zu finden. Bei der kommenden Runde wollen wir deshalb den Themenschwerpunkt vorgeben. Auch die Moderation der Diskussionen und der Umgang mit schwierigen Themen wie Rassismus hat uns immer wieder vor Herausforderungen gestellt. 

Was waren bisher Ihre größten Erfolge und schönsten Momente?

Yildirim: Besonders schön für mich war die intensive und offene Zusammenarbeit mit den Mitforschenden und das Vertrauen und die Freude, die sie eingebracht haben. Die Bindung, die entstanden ist, fand ich unglaublich motivierend und beflügelnd, die gegenseitige Lernbereitschaft, die Verbundenheit und Offenheit in der Gruppe. Und was mich sehr berührt hat, ist das Feedback der Mitforschenden, dass sie gemerkt haben: Wir können mitreden, mitgestalten, wir werden nach unserer Meinung gefragt und können einen Beitrag leisten. Das hat auch ihren Blick auf die Kommune verändert. Es war toll zu sehen, wie sich wirklich Räume des Empowerments für die Mitforschenden geöffnet haben.

Teilnehmende erstellen Mindmap
Foto: Stadt Nürnberg, Bildungsbüro 

Wie hat sich Ihr Blick auf Nürnberg durch das Projekt verändert?

Yildirim: Aus der engen Zusammenarbeit mit den Citizen Scientists habe ich ein wahnsinnig tiefes Verständnis für alltägliche Herausforderungen und auch die Bedürfnisse der betroffenen Nürnberger*innen mitgenommen. Für Themen wie Rassismus war ich schon vorher in gewissem Maße sensibilisiert, aber es ist noch einmal etwas völlig anderes, wenn jemand dir persönlich von Alltagserfahrungen berichtet. Diese Perspektiven sind auch ein großer Ansporn an Veränderungen mitzuwirken. Ich glaube so etwas passiert nur, wenn man die eigene Blase verlässt und andere Perspektiven wahrnimmt. Dieses Wissen, das unsere Mitforschenden einbringen, ist unglaublich wertvoll. Darüber zu lesen – klar macht das was mit einem – aber dabei zu sein, mit den Menschen zu interagieren, sich auszutauschen, ihre Berichte zu hören und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten, ist etwas völlig anderes. 

Leon Altfeld

Leon unterstützt mit:forschen! seit April 2024 als studentische Hilfskraft in der Redaktion und Öffentlichkeitsarbeit. Er studiert Geography: Global Change and Sustainability an der Universität Wien.