„Wir erhoffen uns einen frischen Blick” – Nachgeforscht bei Lena Dunkelmann von Gruß & Kuss
Wie sprechen wir über die großen Gefühle? Dieser Frage nähern sich Bürger*innen und Wissenschaftler*innen im Citizen-Science-Projekt Gruß & Kuss gemeinsam anhand des Liebesbriefarchivs. Wir haben uns mit Lena Dunkelmann von der Universität Koblenz über besondere Liebesbriefe, unerwartete Erkenntnisse und die Einbindung von Bürger*innen in die Forschung unterhalten.
Wie ist die Idee zum Projekt Gruß & Kuss entstanden?
Dunkelmann: Das Liebesbriefarchiv, das die Grundlage für unser Forschungsprojekt Gruß & Kuss bildet, gibt es seit den 1990er Jahren. Eine unserer Projektleiterinnen, Eva L. Wyss, hat damals erkannt, dass bis dato nur Liebesbriefe von Literat*innen und Autor*innen untersucht und ediert wurden. Liebesbriefe aus der Mitte unserer Gesellschaft hatten noch keine Beachtung gefunden. Aus dieser Forschungslücke heraus ist dann das Liebesbriefarchiv entstanden. Die Idee zum Citizen-Science-Projekt kam auf, weil wir uns gedacht haben: Warum sollten Bürger*innen, die Teil jener Alltagskultur sind, die innerhalb der Liebesbriefe behandelt wird, nicht auch selbst an der Erforschung dieser Quelle beteiligt sein?
Woher stammen die Briefe aus dem Archiv und was für Liebesbriefe findet man darin?
Dunkelmann: Die Liebesbriefe werden uns gespendet. Das können eigene Liebesbriefe sein, Liebesbriefe der Großeltern oder eben auch Funde. Wir haben eine sehr große Bandbreite an Liebesbriefen in unserem Archiv. Das reicht vom klassischen Liebesbrief, der von Hand mit Tinte geschrieben wurde, über WhatsApp-Chats zu E-Mail-Korrespondenzen. Auch Abschiedsbriefe, die zum Ende einer Beziehung verfasst werden, finden sich. Wir haben auch sehr viel Feldpost, insbesondere aus dem Zweiten Weltkrieg. Unser ältester Brief stammt aus dem Jahr 1715 und der aktuellste ist aus 2022.
Gibt es einen Brief, der Ihnen persönlich besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Dunkelmann: Ja, und zwar der erste Liebesbrief, den ich gelesen habe, als ich im Projekt anfing. In dem Brief wird explizit erwähnt, dass es sich hier um einen Liebesbrief handelt und dass man damit so viel gewichtiger seine Gefühle und Emotionen ausdrücken kann, als das mit gesprochenen Worten jemals möglich wäre. Vielleicht lag es einfach daran, dass es der erste war, den ich gelesen habe, aber er zeigt eben auch, welche Bedeutung bei solchen Liebesbriefen mitschwingt.
Worin besteht das Forschungsinteresse von Gruß & Kuss?
Dunkelmann: Wir möchten herausfinden, wie Menschen über ihre Gefühle, über Liebe, über Krisen und Konflikte, aber auch über ihren Alltag sprechen. Dafür müssen wir erstmal eine wissenschaftlich auswertbare Grundlage schaffen – daher werden die Liebesbriefe im Projekt digitalisiert und transkribiert. Danach forschen wir inhaltlich an den Briefen und analysieren die Liebeskommunikation.
Warum habt ihr euch für einen Citizen-Science-Ansatz entschieden?
Dunkelmann: Der Citizen-Science-Ansatz hat für uns den Mehrwert, dass wir erfahren, was Menschen, die eben selbst Teil der Alltagskultur sind, aus der die Liebesbriefe stammen, interessiert. Wir erhoffen uns, dass Forschungsschwerpunkte und -interessen aus der Gesellschaft heraus an uns Wissenschaftler*innen herangetragen werden und wir einen neuen und frischen Blick auf unsere Forschung bekommen.
Wie gelingt es Ihnen mit dem Projekt Bürger*innen für das Mitforschen zu gewinnen und welche Zielgruppen erreichen Sie vor allem?
Dunkelmann: Über unsere Social-Media-Accounts auf Instagram und Twitter machen wir auf unsere Veranstaltungen aufmerksam und stellen einzelne Liebesbrief-Beispiele vor. Wir haben auch eine eigene Website, auf der man sich über das Archiv und das Projekt Gruß & Kuss informieren kann. Außerdem haben wir eine hohe Medienpräsenz in Radio, Fernsehen und Zeitungen, worüber bereits sehr viele Leute auf uns aufmerksam geworden sind. In Darmstadt und Koblenz haben wir mehrere Informationsveranstaltungen auf öffentlichen Plätzen durchgeführt, bei denen wir beispielsweise laminierte Liebesbriefe und Postkarten mit den kuriosesten Kosenamen aus unserem Archiv dabei hatten und einen kleinen Vortrag über die Liebesbriefforschung gehalten haben. Unsere Bürgerwissenschaftler*innen sind eigentlich sehr heterogen, von Studierenden bis zu Rentner*innen, wobei sich insgesamt mehr Frauen beteiligen. Wir haben eine Kerngruppe von etwa 20 Personen, die häufig zu unseren Stammtischen kommen oder Liebesbriefe transkribieren, nehmen aber auch fortlaufend Interessierte neu auf.
Welche konkreten Aufgaben übernehmen die Bürger*innen und über welche Formate binden Sie sie ein?
Dunkelmann: Die Möglichkeiten der Teilhabe sind wirklich vielfältig. Wie gerade angesprochen, transkribiert ein Teil der teilnehmenden Bürger*innen Liebesbriefe. Dazu bieten wir regelmäßig Transkriptionsworkshops an, in denen wir unsere Transkriptionsrichtlinien erklären und in die von uns genutzte Transkriptionsplattform einführen. Es ist wichtig, dass alle die gleichen Regeln beim Transkribieren befolgen, damit wir wissenschaftlich mit den Briefen weiterarbeiten können. Andere Bürger*innen setzen sich thematisch mit den Liebesbriefen auseinander, zum Beispiel bei unseren monatlichen Liebesbriefstammtischen. Dabei treffen wir uns parallel in Darmstadt und Koblenz und besprechen ein ausgewähltes Thema. Weitere Begegnungsformate waren ein Stelldichein in Darmstadt und die Lange Nacht der Liebesbriefe in Koblenz, an der 80 Personen teilgenommen haben. Einige Bürgerwissenschaftler*innen interessieren sich auch für die Archivarbeit und sortieren das Archivmaterial vor. Zwei Radiomoderator*innen aus Berlin engagieren sich, indem sie Liebesbriefe für uns einsprechen, die man sich dann auf unserer Webseite anhören kann.
Die Liebesbriefe werden anhand von verschiedenen Themenclustern und Narrativen analysiert. Gab es bei dieser Analyse Erkenntnisse, die Sie überrascht haben?
Dunkelmann: Wir haben drei Themencluster formuliert: „Reiz der heimlichen Liebe”, „Liebe in Krisen und Konflikten” und „Liebe auf Distanz in der Mitte des Lebens”. Sicher brachte die Analyse Interessantes zu Tage, besonders faszinierte mich jedoch wie die Interessen der Bürgerwissenschaftler*innen gewichtet waren. Ich fand zum Beispiel spannend, dass das Interesse am Themencluster „Liebe in Krisen und Konflikten” größer war, als am Cluster „Reiz der heimlichen Liebe”, das ich als deutlich anziehender eingeschätzt hatte.
Im Rahmen von Gruß & Kuss soll auch eine Webapp eingesetzt werden. Wie kann in der App mitgeforscht werden?
Dunkelmann: Wir entwickeln keine neue App, sondern verwenden ein bereits existierendes Tool, den sogenannten LEAF-Writer, der dann für unsere Zwecke angepasst wird. Damit kann man dann Liebesbriefe annotieren, also bestimmte Passagen aus dem Brief auszeichnen, auf Normdaten aus der GND (Gemeinsame Normdatei) oder Wikidata zugreifen und diese einbinden. Die angefertigten Transkriptionen können durch die Datenverknüpfung also erweitert und angereichert werden und die Bürger*innen können ihr eigenes Wissen einbringen. Es ist geplant, auf das Tool über unsere Webseite zugreifen zu können.
Was passiert mit den Ergebnissen, die im Projekt erarbeitet werden?
Dunkelmann: Die Transkriptionen, die im Projekt angefertigt werden, sollen veröffentlicht werden, sodass sie offen zugänglich sind für andere interessierte Wissenschaftler*innen oder auch Bürger*innen. Nach jedem Liebesbriefstammtisch schreiben wir einen Blogartikel für unsere Website, in dem wir die zentralen Ergebnisse und Erkenntnisse festhalten. Außerdem arbeiten wir an wissenschaftlichen Artikeln, die jedoch noch nicht veröffentlicht sind.
Welche Schritte stehen als nächstes im Projekt an und worauf freuen Sie sich besonders?
Dunkelmann: Wir haben gerade eine Kommunikationsplattform aufgesetzt und hoffen, damit die Kommunikation unter den Bürgerwissenschaftler*innen anzuregen. Gerade sind wir außerdem dabei, die bisher angefertigten Transkriptionen öffentlich einsehbar zu machen. Zudem haben wir dieses Jahr auch noch Workshops zur Rolle von Bibliotheken in Citizen-Science-Projekten geplant. Am meisten freue ich mich aber auf die nächsten Liebesbriefstammtische, weil der Austausch zwischen den Bürger*innen und uns Wissenschaftler*innen immer außerordentlich spannend ist und wir gemeinsam tolle Ergebnisse erzielen.
Der nächste Liebesbriefstammtisch findet am 9. März 2023 in Koblenz und Darmstadt statt.
Gruß & Kuss ist ein Verbundprojekt zwischen der Technischen Universität Darmstadt, der Universität Koblenz, der Hochschule Darmstadt sowie der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.