„Die gemeinsamen Erfolgserlebnisse waren sehr schön” – Nachgeforscht bei Nicole Eichenberger von Frauen* im Fokus
Beim Citizen-Science-Projekt Frauen* im Fokus beschäftigten sich interessierte Bürger*innen mit Schriftwerken von Frauen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die oftmals wenig beachteten Werke wurden digitalisiert, transkribiert und thematisch erschlossen. Nun sind sie in den Digitalisierten Sammlungen der Staatsbibliothek zu Berlin für die Öffentlichkeit zugänglich. Wir haben mit Nicole Eichenberger (Staatsbibliothek zu Berlin) über die Arbeit bei Frauen* im Fokus, die eindrücklichsten Werke und besondere Momente im Projekt gesprochen.
Was ist die Idee hinter dem Projekt Frauen* im Fokus?
Eichenberger: Wir haben festgestellt, dass in großen wissenschaftlichen Bibliotheken, wie zum Beispiel der Staatsbibliothek zu Berlin, Werke und Nachlässe von Frauen oft ein Schattendasein führen. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen liegt es daran, dass es sich um historisch gewachsene Sammlungen handelt, die die Kanonbildung früherer Zeiten repräsentieren, als die Werke von Frauen oft eher marginalisiert wurden. Zum anderen ist es aber auch so, dass es zwar durchaus Bestände gibt, diese aber außerhalb von spezialisierten wissenschaftlichen Communitys nicht so leicht zugänglich sind, weil sie kaum aufbereitet oder einfach nicht so bekannt sind. Die Idee hinter Frauen* im Fokus war, das zu ändern. Wir haben bisher wenig beachtete Werke, Lebenszeugnisse und auch Druckwerke von Frauen aus den Beständen unserer Bibliothek herausgesucht und wollten diese gemeinsam mit Bürger*innen erschließen und öffentlich zugänglich beziehungsweise sichtbar machen.
Welchen Mehrwert bietet ein Citizen-Science-Ansatz für das Projekt?
Eichenberger: Aus meiner Sicht ist es eine Win-Win-Situation. Einerseits ist es für uns natürlich toll, wenn wir Unterstützung bei der Erschließung und dem Zugänglichmachen der Bestände bekommen. Andererseits ist es aber auch für die Teilnehmenden eine gute Gelegenheit, vorhandene Kenntnisse einzubringen oder neue Kenntnisse, wie das Lesen historischer Schriften, zu erwerben. Zur Unterstützung des Wissensaufbaus haben wir passende Formate, wie Tutorien, angeboten.
Außerdem handelt es sich dabei auch einfach um ein schönes Gemeinschaftsprojekt. Man arbeitet nicht alleine im stillen Kämmerchen, sondern bildet eine kleine Community. Während der Veranstaltungen haben wir von etlichen Teilnehmenden das Feedback bekommen, dass sie gerne transkribieren und dass sie auch gerne bei weiteren Veranstaltungen dieser Art mitmachen würden. Wir konnten beobachten, dass auch der thematische Zuschnitt, also das feministische und gesellschaftlich relevante Thema, zur Teilnahme motivierte. Einige Personen meldeten uns zurück, dass für sie nicht die Transkriptionsarbeit, sondern das Sich-Auseinandersetzen mit der Thematik im Vordergrund stand.
Wie konnten Bürger*innen bei Frauen* im Fokus mitmachen?
Eichenberger: Wir hatten im Rahmen des Projektes zwei Formate, bei denen man mitmachen konnte. Einmal die Transkriptionswerkstatt, bei der es um die Briefe und Nachlassmaterialien ging. Hierfür hatten wir einen offenen Aufruf auf unserer Webseite und über Social Media geteilt. Die Teilnehmenden durften sich ein oder mehrere Dokumente zum Transkribieren aussuchen, wobei sie die Möglichkeit hatten, die Arbeit selbstständig zu machen und anschließend einzureichen oder aber an Online- oder Präsenz-Tutorien teilzunehmen.
Das andere Format war der Book Club. Hierbei war die Idee, dass wir zusätzlich einen verstärkten thematischen Zugang geben wollten und daher auch Werke der Autorinnen, deren Briefe wir transkribierten, lesen wollten. Dieses Format haben wir in Kooperation mit einer kulturwissenschaftlichen Lehrveranstaltung der Universität Potsdam unter der Leitung von Dr. Maria Weilandt veranstaltet. Hierfür wählten die Studierenden Werke aus, die sie im Book Club gemeinsam mit den Teilnehmenden diskutierten. Zur historischen Kontextualisierung der jeweiligen Werke gaben die Studierenden einleitend einen kleinen Input.
Wer macht bei Frauen* im Fokus mit und wie viele Personen haben insgesamt bereits teilgenommen?
Eichenberger: Insgesamt haben uns 48 Personen bei den Transkriptionen unterstützt. Bei den Book Clubs waren es immer unterschiedlich viele Teilnehmende - meistens aber nahmen zwischen zehn und zwanzig Personen pro Sitzung teil. Insgesamt hatten wir also etwa 70 Teilnehmende.
Die Zusammensetzung der Teilnehmenden war relativ bunt und bestand aus interessierten Bürger*innen sowie Studierenden der Uni Potsdam. Das Alter der Teilnehmenden war sehr unterschiedlich, aber auch ihre Vorerfahrungen, zum Beispiel beim Lesen historischer Schriften. Wir hatten Personen ohne Vorerfahrungen dabei, die hauptsächlich wegen des Themas teilnahmen und bei denen wir dann auch etwas mehr Unterstützung leisten mussten. Wir hatten aber auch Teilnehmende, die sich mit der Schrift schon super auskannten und die einfach Spaß am Transkribieren hatten. Unsere aktivste Teilnehmerin hat allein zwölf Briefe transkribiert. Schön zu beobachten war, dass die verschiedenen Personengruppen in den Veranstaltungen in einen Dialog gekommen sind, wie er anders vermutlich nicht stattgefunden hätte.
Mit welcher Art von Werken beschäftigten sich die Citizen Scientists? Wie wurden die Autorinnen und Werke ausgewählt?
Eichenberger: Es gab einerseits die Lebenszeugnisse, die größtenteils aus der Autographensammlung Ludwig Darmstädters, die wir in der Staatsbibliothek aufbewahren, stammen. Darmstädter war Unternehmer und Chemiker, der sich darüber hinaus auch sehr für die Geschichte, vor allem die der Naturwissenschaften, interessiert hat und im späten 19. Jahrhundert eine sehr umfangreiche Sammlung von Autographen, also eigenhändig geschriebenen Zeugnissen bedeutender Persönlichkeiten, angelegt hat. In dieser Sammlung haben wir dann nach Protagonistinnen der Frauenbewegung gesucht und 13 Frauen ausgewählt, deren Briefe digitalisiert und im Projekt transkribiert wurden. Bei der Auswahl der Werke haben wir darauf geachtet, die verschiedenen Bereiche der Frauenbewegung abzudecken. Wir hatten zum Beispiel Briefe von Luise Zietz aus der proletarischen Frauenbewegung, von Anita Augspurg aus der radikalen bürgerlichen Frauenbewegung, aber auch von Helene Lange, die eher den gemäßigteren Flügel repräsentierte. Wir wollten also ein möglichst breites Spektrum abdecken.
Welchen Beitrag konnte das Projekt zur Digitalisierung und Sichtbarmachung der historischen Dokumente von Frauen leisten?
Eichenberger: Im Rahmen von Frauen* im Fokus wurden insgesamt 85 Dokumente transkribiert. Diese Dokumente werden bald als Volltexte digital in unserer Sammlung zugänglich sein. Dadurch wird der Zugang zu den Werken deutlich erleichtert. Außerdem gibt es die Möglichkeit, bestimmte Begrifflichkeiten über eine Volltextsuche zu finden, was das Erschließen der Inhalte zusätzlich erleichtert.
Gibt es Werke, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Eichenberger: Besonders interessant fand ich die kurzen biografischen Lebens- oder Tätigkeitsbeschreibungen der einzelnen Personen. Es gibt zum Beispiel eine solche Beschreibung von Luise Zietz, die in der Arbeiterinnenbewegung aktiv war. Sie beschreibt, wie sie durch ihre eigenen Armutserfahrungen in ihrer Jugend zur proletarischen Frauenbewegung gekommen ist und wie es dann zu ihrem Lebenswerk wurde, zu versuchen, die Situation von Arbeiterinnen zu verbessern. Wir haben uns auch mit Briefen beschäftigt, die Schlaglichter auf persönliche Schicksale werfen. Lily Braun war eine Frauenrechtlerin, die eigentlich aus einem großbürgerlich-adligen Milieu kam, sich aber für die Situation der Arbeiterinnen, also in der sozialdemokratischen Frauenbewegung, eingesetzt hat. In einem Brief, den sie nach dem Tod ihres ersten Ehemannes, eines Professors, an die königliche Universität schreibt, bittet sie diese, ihr das Gehalt ihres Ehemannes für eine gewisse Zeit weiterzuzahlen, damit sie ihre Miete begleichen kann. Diesen Einblick in den Alltag der Autorinnen fand ich sehr eindrücklich. Es gibt auch Briefe zwischen Protagonistinnen unseres Projekts, zum Beispiel bedankt sich Hedwig Dohm auf einer Karte für die Glückwünsche von Hedwig Heyl. Dass man nachverfolgen kann, wer mit wem in Kontakt stand oder wer wen für welches Amt vorgeschlagen hat und somit einen Einblick in das Netzwerk erhält, war schon sehr spannend.
Welche Herausforderungen sind Ihnen im Projekt begegnet?
Eichenberger: Eine große Herausforderung war der unterschiedliche Kenntnisstand der Teilnehmenden. Im Vorfeld war das kaum einzuschätzen und entsprechend schwierig, für alle geeignete Anleitungen zu erstellen. Die Teilnehmenden hatten dann im Projektverlauf mit den unterschiedlichsten Dingen mehr oder weniger Probleme, wie zum Beispiel mit dem Lesen der Texte oder der Eingabe der Transkription. Ich glaube aber, dass es uns alles in allem sehr gut gelungen ist. Außerdem war die Anzahl der Teilnehmenden beim Book Club sehr unterschiedlich, wobei wir nicht genau wissen, woran das lag. Mit unserem Feedbackbogen hoffen wir, noch weitere Hinweise zu bekommen, die wir in Zukunft bei der Planung ähnlicher Veranstaltungen berücksichtigen können.
Was hat Ihnen während der Projektlaufzeit am meisten Spaß gemacht?
Eichenberger: Sich hier auf eine Sache zu beschränken, ist schwierig. Aber was ich sehr, sehr schön fand, waren gemeinsame Erfolgserlebnisse beim Transkribieren. Also wenn man beispielsweise gemeinsam mit Teilnehmenden einen Text las und ein bestimmtes Wort nicht lesen konnte, und es dann plötzlich doch jemand entziffern konnte. In solchen Momenten merkt man, dass man, gerade bei Transkriptionen, gemeinsam doch besser vorankommt. Ansonsten war es toll zu beobachten, dass es Teilnehmende gab, die großen Spaß an der Arbeit hatten und sich, sobald sie einen Brief fertig bearbeitet hatten, sofort für den nächsten angemeldet haben. Außerdem hat es mich immer sehr gefreut, wenn der Dialog zwischen den verschiedenen Personengruppen – insbesondere im Book Club – funktioniert hat.
Wie geht es mit Frauen* im Fokus nach der Projektlaufzeit weiter?
Eichenberger: Wir planen, die Transkriptionen sowohl über unsere Digitalisierten Sammlungen als auch als XML-codierte Datensätze für die Nachnutzung in der Digital Humanities-Forschung zu publizieren. Ähnliches gilt auch für die gedruckten Werke, die wir im Vorfeld digitalisiert haben. Für diese wurden im Laufe des Projekts mittels OCR (Optical Character Recognition) automatisch Volltexte generiert, die dann ebenfalls in die Digitalisierten Sammlungen eingespielt werden. Darüber hinaus plant Dr. Maria Weilandt, unsere Projekt-Kooperationspartnerin von der Uni Potsdam, ein kollaboratives Publikationsprojekt für das kommende Semester. Dabei sollen die transkribierten Werke thematisch aufgearbeitet und präsentiert werden. Mitmachen können neben Studierenden auch interessierte Bürger*innen – weitere Informationen dazu werden voraussichtlich im März/April auf unserer Veranstaltungsseite zu finden sein.