„Bereits der Projektentwurf sollte inklusiv gestaltet werden” – Nachgeforscht bei Marie Lampe von IncluScience
Im Projekt IncluScience wird die Wheelmap, eine OpenStreetMap-Anwendung mit Informationen zur Barrierefreiheit von Orten, partizipativ weiterentwickelt. Außerdem entsteht ein Instrumentenkoffer, der anderen Citizen-Science-Projekten Hilfestellungen zur Inklusion von Menschen mit Behinderung geben soll. Wir haben mit Marie Lampe von Sozialhelden e.V. über die Wheelmap und die verschiedenen Beteiligungsformen im Projekt gesprochen.
Was ist die Idee hinter dem Projekt IncluScience?
Lampe: IncluScience ist ein gemeinsames Projekt von Sozialhelden e. V. und der Sozialforschungsstelle der TU Dortmund. Sozialhelden e.V. ist ein gemeinnütziger Verein von Aktivist*innen, die gesellschaftliche Probleme behandeln und sich insbesondere für Menschen mit Behinderung einsetzen. Unser Projektpartner ist die Sozialforschungsstelle der TU Dortmund, deren Wissenschaftler*innen zu sozialer Innovation forschen.
Beide Partner versuchen, ihre jeweilige Expertise in das Projekt einzubringen. Das Ziel des Projektes ist es in erster Linie, die Wheelmap weiterzuentwickeln. Des Weiteren erarbeiten insbesondere die Wissenschaftler*innen der TU Dortmund einen Instrumentenkoffer, der für andere bürgerwissenschaftliche Projekte nützlich sein soll.
Was ist die Wheelmap? Und inwieweit soll sie weiterentwickelt werden?
Lampe: Die Wheelmap gibt es schon seit einigen Jahren. Das ist eine große Online-Karte, die auf OpenStreetMap basiert und zu der jede Person Daten, beispielsweise zur Rollstuhlgerechtigkeit eines Ortes, beisteuern kann. Das Ganze funktioniert mit einem Ampelsystem, wobei rot bedeutet, dass der Ort gar nicht rollstuhlgerecht ist, gelb, dass er teilweise rollstuhlgerecht ist, es aber zum Beispiel eine kleine Stufe am Eingang gibt, und grün, dass der Ort voll rollstuhlgerecht ist und über einen stufenlosen Zugang oder eine Rampe verfügt. Auch die Barrierefreiheit der Toiletten kann extra bewertet werden. Nutzer*innen der Wheelmap können so herausfinden, ob der Ort, zu dem sie möchten, für sie zugänglich ist.
Zukünftig wollen wir diese Karte auch für Menschen mit anderen Behinderungen nützlich machen. Neben Eintragungen zur Rollstuhlgerechtigkeit sollen unter anderem auch Informationen zu Bodenleitsystemen oder Angebote für Gehörlose eingetragen werden können.
Welchen Mehrwert bietet ein Citizen-Science-Ansatz für das Projekt?
Lampe: Wir wollen mit dem Projekt Inklusion in Wissenschaft und Forschung voranbringen. Dafür ist es natürlich wichtig, dass auch die Zielgruppe beteiligt wird, in diesem Fall vor allem Menschen mit Behinderung. Oft ist es ja so, dass Betroffene befragt werden, ohne dass sie eine Entschädigung erhalten. Also leisten sie quasi kostenlos Expert*innen-Arbeit. Am Ende werden die Daten häufig entweder gar nicht verwendet oder so, dass die Befragten nicht davon profitieren. Das ist in unserem Projekt anders. Wir legen Wert darauf, die betroffenen Menschen von Beginn an der Weiterentwicklung der Wheelmap zu beteiligen. Sie können sich dabei selbst aussuchen, in welchem Rahmen sie beteiligt sein möchten. Weil wir ihre Arbeit sehr wertschätzen, erhalten die Teilnehmenden eine Aufwandsentschädigung.
Aus der Anwendung des bürgerwissenschaftlichen Ansatzes gewinnen wir natürlich auch Erkenntnisse darüber, wie es uns gelingt, bestimmte Zielgruppen zu beteiligen. Das fließt dann wiederum in den Instrumentenkoffer ein, sodass auch andere Projekte von unseren Erfahrungen profitieren können.
Wie können Bürger*innen bei IncluScience mitmachen?
Lampe: Es gibt verschiedene Möglichkeiten bei IncluScience mitzumachen. Man kann zum einen an Umfragen teilnehmen, von denen wir bisher zwei größere durchgeführt haben. Darüber hinaus bieten wir auch Workshops mit kleineren Fokusgruppen an und kommen hier mit den einzelnen Teilnehmer*innen in den näheren Austausch. Außerdem müssen natürlich auch das neu entstandene Produkt beziehungsweise die Prototypen der erweiterten Wheelmap getestet und neue Orte gemappt werden.
Wir haben einige Menschen, die wirklich von Anfang an dabei sind, die uns umfangreiches Feedback und Rückmeldung auf jede Umfrage geben und bei allen Workshops dabei sind. Aber genauso haben wir auch Menschen, die nur bei bestimmten Umfragen oder Events teilnehmen. Interessierte können jederzeit in das Projekt einsteigen.
Wer macht bei IncluScience mit und wie viele Personen haben insgesamt bereits teilgenommen?
Lampe: Der Großteil der Teilnehmer*innen sind Betroffene, die meisten mit körperlichen Behinderungen, und eventuell noch Angehörige oder auch „Allys“. Das sind Personen, die sich, auch wenn sie nicht selbst betroffen sind, für Menschen mit Behinderung einsetzen.
Bei den Umfragen, die wir durchgeführt haben, hatten wir jeweils um die 500 Beteiligungen. Das ist für uns schon sehr, sehr positiv, denn so konnten wir auch feststellen, dass die Beteiligung konstant geblieben ist. Bei den Workshops nehmen je nach Thematik etwa 50 Personen teil.
Sie haben vorhin bereits den bürgerwissenschaftlichen Instrumentenkoffer erwähnt, der im Projekt entwickelt wird. Was kann man sich darunter vorstellen?
Lampe: Der Instrumentenkoffer ist ein Leitfaden für zukünftige bürgerwissenschaftliche Projekte, die im Idealfall von vornherein inklusiv geplant werden. Wir nennen das „disability mainstreaming“. Das bedeutet, dass Menschen mit Behinderung in Projekten beteiligt werden und zwar nicht erst im Laufe des Projekts, sondern dass bereits der Projektentwurf inklusiv gestaltet werden sollte. Auf Basis unserer Erfahrungen bieten wir Hilfestellungen zu Fragen wie: Wie kann man sowohl bei Umfragen als auch bei Workshops für Barrierefreiheit sorgen? Wie gestalte ich eine Umfrage so barrierefrei, dass sie auch für Menschen mit einer Sehbehinderung oder mit Lernschwierigkeiten zugänglich ist? Welche Werkzeuge und Netzwerke gibt es schon? Wie finde ich Gebärdensprachdolmetscher*innen?
Im Projekt werden auch sogenannte „Mapping-Events“ angeboten? Was ist ein Mapping-Event und wie läuft es ab?
Lampe: Ein Mapping-Event ist eine Aktion, die in einem festen Zeitraum stattfindet. Das können mehrere Stunden sein oder auch mehrere Tage. Während dieses Events können Menschen losgehen und – im Idealfall mehrere – Orte „mappen“, also auf der Wheelmap Informationen zu deren Zugänglichkeit eintragen. Man kann dabei allein oder auch in Gruppen arbeiten und wir bieten Mappings auch als Teamevent für Unternehmen an. So kann man seine Umgebung entdecken und gleichzeitig etwas nützliches tun. Manche Mapping-Events finden zu einem bestimmten Thema statt, zum Beispiel zum Ortstyp „Apotheken“. Hier haben wir Menschen bundesweit dazu aufgerufen, die Apotheken in ihrer Straße zu mappen. Mit der Zeit entsteht so eine flächendeckende Karte mit vielen Informationen.
Welche Herausforderungen sind Ihnen im Projekt bislang begegnet?
Lampe: Bisher ist es uns noch nicht gelungen, alle Zielgruppen gleichermaßen zu beteiligen. Es machen viele Menschen mit, die einen Rollstuhl nutzen. Uns fehlen aber zum Beispiel noch Menschen mit Lernschwierigkeiten. Unsere Umfragen und Aufrufe veröffentlichen wir in Leichter Sprache, trotzdem ist es schwierig diese Personen zu erreichen. Häufig leben sie in Einrichtungen, wo eventuell kein Internetzugang vorhanden ist. Damit fehlt uns die Expertise dieser Personengruppe, die für uns aber total wichtig ist, denn wir möchten natürlich auch die Zugänglichkeit für Menschen mit Lernschwierigkeiten abbilden. Wir haben nun aber Unterstützer*innen, die mit unseren Umfragen in Einrichtungen gehen, um die Betroffenen zu erreichen.
Ähnlich ist es mit gehörlosen Menschen. Wir versuchen, immer Gebärdensprachdolmetscher*innen und Schriftdolmetscher*innen bei den Workshops dabei zu haben. Das ist nicht immer ganz einfach, denn es arbeiten nur wenige Menschen auf diesem Gebiet. Dazu kommt, dass wir unsere Umfragen noch nicht in Deutscher Gebärdensprache anbieten. Das ist eine Herausforderung, an der wir arbeiten.
Konnten Sie durch IncluScience und die Wheelmap-App bereits neue Erkenntnisse zur Barrierefreiheit im öffentlichen Raum in Deutschland gewinnen?
Lampe: Wir haben festgestellt, dass die Barrierefreiheit regional relativ unterschiedlich ist, und auch allein schon das Vorhandensein von Daten unterscheidet sich. So ist die Datenlage für Großstädte natürlich etwas besser als für ländliche Gebiete. Im Projekt A11yscore möchten wir deshalb in einer Karte die regionalen Unterschiede zur Barrierefreiheit sichtbar und vergleichbar machen.