Keynote-Speakerinnen Dilbuhar Amin & Silke Betscher: „Der solidarische Umgang mit Hierarchien und Machtungleichheit ist ein stetiger Lernprozess“
Bei der Eröffnungskeynote zum Forum Citizen Science 2024 standen gleich acht Sprecher*innen auf der Bühne: Stadtteilforscher*innen und Wissenschaftlerinnen von den Stadtteillaboren Bochum Hustadt und Hamburg Veddel, die einzeln und gemeinsam zu Gesundheitsthemen forschen. Im Interview geben Prof. Dr. Silke Betscher (HAW Hamburg und Stadtteillabor Hamburg Veddel) und Dilbuhar Amin (Stadtteillabor Bochum Hustadt und Stadtteilgesundheitszentrum Querenburg) Einblicke in ihre Zusammenarbeit, die verschiedenen Wirkungsdimensionen ihrer Forschung und den Umgang mit Machtungleichheit in ihren Projekten.
Ihr macht in den Stadtteillaboren Bochum Hustadt und Hamburg Veddel (Stadtteillabor im Aufbau) kollaborative Community-Forschung. Seit wann seid ihr dabei?
Dilbuhar: Ich bin im Stadtteillabor Bochum Hustadt aktiv, das 2016 von Christiane Falge gegründet wurde. 2019 wurde ich zur Stadtteilforscherin geschult und habe das erste Mal geforscht. Forschung war für mich damals total neu und es ging auch um Grundlagen: Was ist Forschung überhaupt? Warum forschen wir? Was ist das Ziel unserer Forschung?
Silke: Ich war seit 2019 in Bochum dabei und bin dann nach Hamburg gewechselt, wo das Stadtteillabor noch im Aufbau ist. Das Stadtteillabor hier wird eine Schnittstelle zwischen dem multiprofessionellen Versorgungszentrum Poliklinik Veddel, der HAW Hamburg und der Nachbarschaft auf der Veddel. Das Besondere ist, dass wir mit den Stadtteillaboren eine dauerhafte Struktur aufbauen, wo wir langfristig zusammenarbeiten und Beziehungen aufbauen können.
Zu welchen Themen forscht ihr in den Stadtteillaboren?
Dilbuhar: In der Hustadt forschen wir zu ganz verschiedenen Themen. Unser erstes Thema war Prävention: Was verstehen die Menschen in unserer Community unter „Gesundheit“? Was tun sie, um ihre Gesundheit zu schützen und zu verbessern? Während der Pandemie haben wir zu Corona geforscht. In unserem Stadtteil gibt es viele Probleme mit dem Wohnen, das ist also auch ein großes Thema.
Silke: In Hamburg fing alles mit einem Community Health Survey an. Das war die erste flächendeckende partizipative Untersuchung zur sozialen und gesundheitlichen Situation eines Stadtteils in Deutschland, die von der Poliklinik Veddel gemeinsam mit Stadtteilforscher*innen erstellt und von uns gemeinsam ausgewertet wurde. Es gibt einen ständigen Austausch zwischen den Städten: Bochum macht jetzt ein Community Health Survey und wir machen ein Forschungsprojekt zum Wohnen.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit in den Stadtteillaboren?
Dilbuhar: Wir haben von Anfang an versucht, Forschung mit Freundschaft zu verbinden und arbeiten wirklich auf Augenhöhe. Wir wählen zusammen Themen aus, die wichtig für unsere Communities sind. Hier in Bochum arbeiten wir Statteilforscher*innen im Tandem mit Studierenden.
Silke: In Hamburg ist die Zusammenarbeit zwischen der Hochschule und der Poliklinik sehr eng. Wir haben ein festes Team zur Forschungskoordination aufgebaut, in dem die Poliklinik vertreten ist, ich für die HAW, eine studentische Hilfskraft und ein Stadtteilforscher von der Veddel.
Welche Hürden musstet ihr mit euren Stadtteillaboren mit Blick auf die Communities, aber auch auf die Institutionen, bereits bewältigen?
Dilbuhar: Ich fange mal mit der Community an: Wir haben am Anfang besonders bei den Interviews gemerkt, dass die Menschen nicht offen dafür waren, mit uns zu reden. Wahrscheinlich hatten sie schlechte Erfahrungen mit Forschenden gemacht. Da haben wir versucht, Yoga- und Fahrradkurse zu organisieren, um der Community zu zeigen, dass wir etwas für sie tun wollen. Und das haben wir geschafft.
Silke: Aus der Perspektive der Hochschule gab es auch einige vor allem bürokratische Hürden: Wie können wir Tablets an die Stadtteilforscher*innen ausleihen, die ja keine Hochschulangehörige sind? Wie können wir Aufwandsentschädigungen bezahlen? Community-Forschung braucht zudem mehr Zeit und Flexibilität, denn wir müssen uns erst auf gemeinsame Begriffsverständnisse einigen und teils sind Schulungen notwendig. Das sprengt oft Förderlogiken. Die Zusammenarbeit mit den Studierenden in Bochum ist toll, aber auch eine Herausforderung. Viele Studierende, die nicht selbst aus migrantischen Communities kommen, haben eine bestimmte Perspektive auf diese. Oft denken sie: Wir sind die Studierenden und gehören zur Mehrheitsgesellschaft, wir kümmern uns mal um die. Sie müssen erstmal lernen, dass die Stadteilforscher*innen die eigentlichen Expert*innen sind, die auch schon viel mehr Forschungserfahrung haben, um diesen Paternalismus abzulegen.
Die Stadtteillabore sollen eine nachhaltige und langzeitbezogene Zusammenarbeit ermöglichen. Wie stellt ihr sicher, dass die Zusammenarbeit auch über einzelne Projekte hinaus funktioniert?
Silke: Das ist eine Herausforderung. Verbindlichkeit und Kontinuität entsteht auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Methoden. Bisher halten wir das Ganze durch Forschungsgelder am Laufen, die wir akquirieren. Das ist mit Unsicherheit verbunden. Mal gibt es Gelder für mehr Stadtteilforscher*innen und mal für weniger. Es ist nicht immer dieselbe Gruppe, die zusammen forscht. Das andere ist die Beziehungsebene, dass selbst wenn Finanzierungslücken entstehen, trotzdem die Beziehungen da sind. Ich wohne unter der Woche auf der Veddel, das heißt, es gibt auch Alltagsbegegnungen. Wir wollen gemeinsam vor Ort gestalten, es ist keine punktuelle Forschung.
Dilbuhar: Es gibt Wochen oder Monate, da finden keine Forschung oder Vorträge statt. Aber wir bleiben im Kontakt, auch außerhalb der Forschungsthemen. Das macht unsere Forschung lebendiger.
Silke: Ich glaube, dass ein Stadtteillabor eher eine Lebensform ist, als eine Forschungsmethode.
Das Motto des Forum Citizen Science 2024 war Mit:Wirkung. Inwiefern wirkt sich die Zusammenarbeit und das gemeinsame Forschen auf die Beteiligten – sowohl die Wissenschaftler*innen als auch die Stadtteilforscher*innen – aus?
Dilbuhar: Für mich als Stadtteilforscherin hat das sehr viel geändert. Wir haben gelernt, dass jeder Mensch wertvoll ist und an sich glauben sollte. Jeder kann in seinem Umfeld, wenn auch ganz kleine, Veränderungen bewirken. Viele von uns haben Rassismus-Erfahrungen gemacht – auch im Gesundheitssystem. Inzwischen verstehe ich das Gesundheitssystem besser und weiß wie ich Informationen im Netz finden kann. Ohne die Forschung, hätten wir das nicht erreicht.
Silke: Mich als Wissenschaftlerin hat die gemeinsame Forschung ganz grundlegend verändert, denn es macht natürlich einen Unterschied, ob ich mein Wissen durch Publikationen von anderen habe oder durch Forschung, die ich nur in Teams von Wissenschaftler*innen durchgeführt habe, oder eben erfahre, dass die Forschung schon im Entwicklungsprozess gemeinsam mit Vielen entsteht und mich in meinen Annahmen und Perspektiven immer wieder infrage stellt. Wie wir Themen bearbeiten, was wir wichtig finden, welche Fragen wir stellen wollen – das alles ist ein ständiges Aushandeln. Das hat mich in der Art und Weise, wie ich Wissenschaft betreibe, sehr stark geprägt.
Du sprichst hier schon eine zweite Wirkungsdimension von kollaborativer Community-Forschung an, nämlich die Veränderung von Wissensproduktion und der Wissenschaft selbst. Wie kann der Einbezug situierten und oft marginalisierten Wissens akademische Diskursräume verändern?
Silke: Der Begriff des situierten Wissens geht auf Donna Haraway zurück, die damit deutlich machen wollte, dass kein Wissen unabhängig von der eigenen sozialen Position und damit auch von dem eigenen Blick auf die Welt ist. Das heißt, alles, was Wissenschaft für relevant erachtet, welche Fragen gestellt werden, auf welche Art und Weise Wissen generiert wird, hat immer auch etwas damit zu tun, wo wir in dieser Gesellschaft stehen und welche Erfahrungen wir machen. Genau das wollen wir mit dem Stadtteillabor ins Zentrum rücken. Wir sagen: Das ist Wissen, das wir für unsere postmigrantische Gesellschaft tatsächlich brauchen, um uns weiterzuentwickeln. Wir brauchen dieses Wissen der Vielen, und das heißt, wir müssen auch Methoden, Konzepte und Formate entwickeln, wie wir es erheben können. Als weiße, deutsche Wissenschaftlerin kann ich nicht einfach hingehen und sagen, ich befrage jetzt mal ganz viele Migrant*innen. Ich komme ja vielleicht gar nicht auf die richtigen Fragen oder habe keinen Zugang zu bestimmten Menschen. Letztlich ist das auch eine Frage der Demokratisierung von Wissensproduktion: Wir müssen Wege finden, gesellschaftlich relevante Fragen gemeinsam zu diskutieren.
Dafür sind auch machtkritischen Reflexionen besonders relevant. Wie geht ihr in der Praxis mit eventuell unterschiedlichen Machtverhältnissen zwischen Wissenschaftler*innen und Stadtteilforscher*innen um?
Dilbuhar: Wir haben es nach mehreren Jahren gemeinsamen Forschens endlich geschafft, zusammen mit Stadtteilforscher*innen und Wissenschaftler*innen einen Verein zu gründen – das Stadtteilgesundheitszentrum Querenburg. Dabei sind wir als Stadtteilforscher*innen auch im Vorstand. Außerdem sind wir zunehmend an mehr Forschungsschritten beteiligt: In unseren ersten Projekten in Bochum haben wir zwar zusammen geforscht und Daten erhoben, aber wir Stadtteilforscher*innen waren nicht an der Analyse beteiligt. Am Ende haben wir gesagt: Langsam sind wir fit und wir wollen beim nächsten Mal auch bei der Auswertung dabei sein.
Silke: Der solidarische Umgang mit Hierarchien und Machtungleichheit ist ein stetiger Lernprozess, auf den wir uns ständig neu einlassen müssen. In Hamburg versuchen wir durch das Forschungs-Koordinationsteam, in dem ja ein Stadtteilforscher sitzt und das jeden Planungsschritt gemeinsam geht, Macht und Hierarchien entgegenzuwirken. Die sind natürlich da und lassen sich auch nicht wegreden, man sieht sie auf vielen Ebenen, sei es wenn wir auf das Einkommen gucken, beim Zugang zu Institutionen, zu Wissen oder bei Fragen von Diskriminierungsbetroffenheit. Das versuchen wir zu reflektieren und zu schauen, wie wir in Beziehung gehen können und Freundschaften entwickeln. Wir hatten auch Treffen mit externer Supervision, wo wir darüber nachgedacht haben, wie sich unterschiedliche Privilegierung oder De-Privilegierung in unserem Setting widerspiegelt. Beim Umgang mit Hierarchien spielt auch Sprache eine wichtige Rolle. Wir mussten lernen, anders zu sprechen und Zeit für Übersetzungen einzuplanen. Ich kann mir noch so sehr vornehmen, mit Macht reflektiert umzugehen, wenn ich das in einer sehr komplizierten Sprache mache, bringt das gar nichts.
In eurer Keynote klang noch eine dritte Wirkungsdimension von Community-Forschung an: Die Wirkung auf die Gesellschaft. Welche Veränderungen kann kollaborative Forschung auf gesellschaftlicher Ebene bewirken? Welche konkreten Auswirkungen hatten die Projekte in den Stadtteilen auf die Bewohner*innen?
Dilbuhar: Bei uns in der Community haben wir es geschafft, dass die Menschen sich ihrer Rechte bewusster werden und sich beraten lassen, zum Beispiel durch den Mieterverein. Letztes Jahr haben wir auch eine Mieterversammlung durchgeführt. Wir haben bei vielen Familien an die Tür geklopft und mit ihnen gesprochen. Wir haben einen Raum gefunden, wo die Bewohner*innen hinkommen und ihre Probleme äußern konnten und wir Stadtteilforscher*innen haben übersetzt, um die Sprachbarrieren zu überbrücken.
Silke: Durch die Stadtteilforscher*innen entstehen Kontaktzonen zwischen den Bewohner*innen, der Hochschule und Praxisinstitutionen, es entsteht Durchlässigkeit. Das ist nicht die riesige gesellschaftliche Veränderung, aber ich glaube, dass wir so etwas dringend brauchen, besonders unter den aktuellen Bedingungen und dem Rechtsruck. Wir brauchen mehr Räume, in denen wir das Miteinander leben und gemeinsam Gesellschaft gestalten. Außerdem entwickeln wir Modelle für etwas, das es in Deutschland kaum gibt, nämlich Community-based Health Care. Stadtteilgesundheitszentren wie die Poliklinik haben schon bewiesen, dass gesundheitliche Versorgung als multiprofessionelle Versorgung im Stadtteil möglich ist. Wir wollen dies um eine Komponente erweitern und sehen Community-Forschung auch als einen Teil von Gemeinwesenarbeit zur kollektiven Bearbeitung sozialer Determinanten von Gesundheit. Zudem können auf diese Weise gemeinsam mit den Menschen aus dem Stadtteil konkrete Bedarfe ermittelt und entsprechende Angebote entwickelt werden.
Was wünscht ihr euch für die Zukunft der Stadtteillabore?
Dilbuhar: Ich wünsche mir, dass unser Projekt für lange Zeit bleibt. Veränderungen kosten Mut, aber vor allem auch Zeit. Wenn man gemeinsam forscht, sollte man sich gegenseitig vertrauen. Um das Vertrauen der Community zu gewinnen und die Menschen zu überzeugen, braucht es langfristige Projekte. Wir müssen zeigen: Wir sind hier, unsere Forschung ist für euch und wir sind nicht nach einem halben Jahr wieder weg.
Silke: Ich wünsche mir, dass die Hochschulen es noch stärker als ihren Auftrag sehen, solche Räume zu schaffen und abzusichern und dass sie dafür auch Mittel bereit gestellt bekommen, um solche Modelle in eine Grundfinanzierung zu übernehmen. Ich wünsche mir, dass es mehr Stadtteillabore gibt und eine bundesweite Struktur entsteht, in der die Stadtteilforscher*innen eine zentrale Rolle einnehmen. Schon jetzt schulen die erfahrenen Stadtteilforscher*innen wie Dilbuhar die neuen Stadtteilforscher*innen in anderen Städten. In Zukunft könnten sie auch den öffentlichen Gesundheitsdienst darin schulen, wie er mit Community Forscher*innen zusammenarbeiten kann. Ich wünsche mir, dass die bestehenden Strukturen sich noch viel mehr öffnen für eine Zusammenarbeit mit den Stadtteillaboren, zum Beispiel eben der öffentliche Gesundheitsdienst, der sehr stark vom Community-Wissen profitieren kann.