Citizen Science und die UN-Nachhaltigkeitsziele: Ein Blick auf die aktuelle Forschungslage
Vom 14. – 15. Oktober 2020 findet im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine Citizen-Science-Konferenz statt, die sich ausschließlich den Nachhaltigkeitszielen (SDGs) widmet. Die vom Museum für Naturkunde Berlin (MfN) organisierte Konferenz unter dem Motto “Knowledge for Change: A decade of Citizen Science (2020-2030) in support of the SDGs” wird als Hybrid-Konferenz sowohl in der Berliner Kulturbrauerei als auch als Online-Konferenz organisiert. Das ermöglicht weltweit noch mehr Menschen, aktiv daran teilzunehmen.
Ein Team des MfN rund um die Psychologin Nicola Moczek hat begleitend zum Thema der Konferenz eine kurze Umfrage konzipiert. Möglichst viele europäische Citizen-Science-Projekte können angeben, ob und wie sie die SDGs unterstützen. Projekte oder Personen können auch dann mitmachen, wenn sie bisher noch keinen Bezug zu den globalen Nachhaltigkeitszielen hergestellt haben. Sie können in dem Fall Angaben dazu machen, wo sie künftig Potenziale dazu sehen und welche konkrete Unterstützung benötigt wird, damit sie die SDGs fördern können.
Das Konzept der Umfrage basiert auf der einer Reihe von Erkenntnissen über den systematischen Beitrag von Citizen Science für die nachhaltige Entwicklung und der Nachhaltigkeitspolitik. Fünf aktuelle Artikel werden im Folgenden kurz vorgestellt:
Bereits in einer der ersten Veröffentlichungen zum Thema identifizierten Sarah West und Rachel Pateman (2017) drei Handlungsfelder, in denen Citizen-Science-Projekte wesentliche Impulse zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele geben können: 1.) Das Definieren von nationalen und regionalen Zielen bzw. Indikatoren, 2.) das Sammeln, Auswerten und Bereitstellen von Messdaten sowie 3.) die Umsetzung von Maßnahmen.
Steffen Fritz und sein Team beschäftigten sich in einer Veröffentlichung vom Oktober 2019 eingehender mit der besonderen Rolle der Messdaten und konstatierten, dass traditionelle Daten-Quellen zur Überprüfung der Nachhaltigkeitsziele, z.B. gesammelt von nationalen Statistikämtern, oftmals nicht ausreichend sind (Fritz et al., 2019). Bedingt durch die hohen Kosten ihrer Beschaffung, könnten diese Daten oft nur grob in Bezug auf zeitliche, räumliche und sachliche Aspekte bereitgestellt werden. Demzufolge ist ihre Verfeinerung durch Daten aus Citizen-Science-Projekten sinnvoll und notwendig.
Fraisl und Kolleg*innen betrachteten in ihrer im Februar 2020 publizierten Analyse des Beitrags von Citizen-Science-Projekten zu den SDGs alle aktuellen 244 Indikatoren, welche den 17 Nachhaltigkeitszielen zugeordnet sind. Wenngleich nach den Autor*innen Citizen-Science-Projekte derzeit nur zu fünf Indikatoren einen Beitrag leisten, sehen sie jedoch die Möglichkeit, dass die laufenden Projekte weitere 76 Indikatoren mit wertvollen Daten beliefern könnten. Zusammen könnten demnach rund ein Drittel aller Indikatoren (auch) mit Unterstützung von Bürgerforschenden erfasst werden. Fraisl und Kolleg*innen schlagen dazu unter anderem vor, dass die Projekte unterstützt werden, ihre Datenerhebung und -protokollierung so anzupassen, da sie für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele besser nutzbar sind. Den größten Beitrag sehen sie zu den Zielen 15 (Leben an Land), Ziel 11 (Nachhaltige Städte und Gemeinden), Ziel 3 (Gesundheit und Wohlergehen) sowie Ziel 6 (Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen).
Mit dem Potential einer systematischen Nutzung bürgerwissenschaftlich erzeugten Daten für die Nachhaltigkeitsziele beschäftigt sich auch ein Ende Juli 2020 erschienener Aufsatz von Schleicher & Schmidt (2020). Die beiden Autorinnen analysierten 127 Citizen-Science-Projekte der deutschen Plattform Bürger schaffen Wissen (www.buergerschaffenwissen.de/projekte; Stand Juni 2019). Dazu entwickelten sie ein eigenes Kategoriensystem, um abzubilden, welche Nachhaltigkeitsziele von den Projekten adressiert werden. Sie weisen thematische Bezüge zu 12 der 17 Ziele nach. Ziel 15 (Leben an Land) steht auch in dieser Studie auf Platz 1 mit 48 thematisch verknüpften Projekten. An zweiter Stelle sehen die Autorinnen Ziel 4 (Hochwertige Bildung) mit 33 Projekten, gefolgt von Ziel 13 (Maßnahmen zum Klimaschutz) mit 22 Projekten und Ziel 11 (Nachhaltige Städte und Gemeinden) mit zehn verknüpften Projekten.
Die einseitige Rollenzuschreibung der Citizen-Science-Projekte als verlässliche Datenlieferanten und die damit einhergehende Erhöhung der Leistungsfähigkeit und Nutzbarkeit der Daten, unterschätzt eine andere wichtige Funktion von bürgerwissenschaftlichen Projekten. Dies ist die Hauptaussage eines wissenschaftlichen Artikels von Henry Sauermann und Kolleg*innen, der bereits Ende April 2020 publiziert wurde (Sauermann et al., 2020). Es sei die Funktion, Bürger*innen auf relevante Themen aufmerksam zu machen, sie für die Fragestellungen und gesellschaftlichen Herausforderungen zu sensibilisieren und ihnen eine Brücke zu wissenschaftlicher Forschung und Erkenntnisgewinn zu bauen. Im Idealfall werde durch die Teilhabe an Citizen-Science-Projekten das Vertrauen der Bürger*innen in die Wissenschaft gestärkt und über die enge Zusammenarbeit mögliche Spannungen zwischen den traditionellen wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen und ihren zivilgesellschaftlichen Partner*innen vermindert.
Die hier dargestellten wissenschaftlichen Analysen legen die konzeptuelle Basis für einen längerfristigen Beitrag von Citizen Science für die Nachhaltigkeitsziele der UN. Bisher fehlt jedoch die empirische Datenbasis und damit die Sichtweise der Projektbeteiligten. Diese Wissenslücke soll durch die laufende Umfrage gefüllt werden.
Es ist dem Team vom Museum für Naturkunde Berlin ein besonderes Anliegen, eine möglichst große Bandbreite der möglichen Beiträge zu erfassen. Daher wurden für die Umfrage die drei Handlungsfelder von West & Pateman (2017) um zwei weitere mögliche Handlungsfelder ergänzt, nämlich „Bewusstsein schaffen“ (Problem erkennen, informieren und veröffentlichen, für das Thema sensibilisieren) sowie „Verhalten“ (nachhaltiges Verhalten von Personen ermöglichen, Engagement fördern etc.). Die Umfrage soll einen Beitrag dazu liefern, den wechselseitigen Austausch an Wissen und Erfahrungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu fördern und damit ein gegenseitiges Lernen zu ermöglichen. Nur dann kann nachhaltige Transformation gelingen.
Links
Citizen Science SDG-Konferenz: https://www.cs-sdg-conference.berlin/
Statistikämter der Länder: https://www.statistik.at/, https://www.bfs.admin.ch und www.destatis.de
Globale Nachhaltigkeitsziele: https://www.un.org/sustainabledevelopment/sustainable-development-goals/; https://www.bundeskanzleramt.gv.at/themen/nachhaltige-entwicklung-agenda-2030.html und https://17ziele.de/
Referenzen
Fraisl, D. Campbell, J., … & Fritz, S. (2020). Mapping Citizen Science contributions to the UN sustainable development goals. Sustainability Science. Available at https://doi.org/10.1007/s11625-020-00833-7 [last accessed 17 August 2020].
Fritz, S., See, L., ... & West, S. (2019). Citizen Science and the United Nations Sustainable Development Goals. Nature Sustainability, 2, 922–930 (2019). Available at https://www.nature.com/articles/s41893-019-0390-3 [last accessed 17 August 2020].
Sauermann, H, Vohland, K., ... & Winter, S. (2020). Citizen Science and sustainability transitions. Research Policy, 49, 103978. Available at https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0048733320300585?via%3Dihub [last accessed 17 August 2020].
Schleicher, K. & Schmidt, C. (2020). Citizen Science in Germany as Research and Sustainability Education: Analysis of the main forms and foci and its relation to the Sustainable Development Goals. Sustainability 2020, 12, 6044. Available at doi: 10.3390/su12156044 [last accessed 17 August 2020].
West, S. & Pateman, R. (2017). How could Citizen Science support the Sustainable Development Goals? Policy brief. Stockholm Environment Institute. Available at https://www.sei.org/publications/citizen-science-sustainable-development-goals/ [last accessed 17 August 2020].