Fragen für die Zukunft der Citizen Science: Ein neues Engagementfeld?
von Vivian Schachler und Ralf Baumgarth
Wer sich bürgerschaftlich engagiert, leitet z.B. ehrenamtlich eine Sportgruppe, sammelt gemeinschaftlich Müll oder bietet unentgeltlich Nachhilfe an. Sogenanntes bürgerschaftliches Engagement wird als „der freiwillige, unentgeltliche und am Gemeinwohl orientierte Einsatz einer oder mehrerer Personen auf Basis der freiheitlichen demokratischen Grundordnung” beschrieben (Gesetz zur Errichtung der Deutschen Stiftung für Engagement Ehrenamt [DSEE, BGBI.IS.712, §2 (2) 1]).
Pflanzenbeobachtungen online dokumentieren, jüdische Orte auf einer interaktiven Karte veranschaulichen oder sich an der Neuvermessung des Landlebens im 21. Jahrhundert beteiligen – das sind einige der Tätigkeiten in Citizen-Science-Projekten, an denen sich Bürger*innen beteiligen können. Laut dem Weißbuch „Citizen-Science Strategie 2030 für Deutschland” (Bonn et al., 2022, S.1) wird unter Citizen Science folgendes verstanden: “Citizen Science, auch Bürgerforschung genannt, beschreibt die Beteiligung von Personen an wissenschaftlichen Prozessen, die nicht in diesem Wissenschaftsbereich institutionell gebunden sind.” Die Partizipationspyramide (Abb. 1) zeigt, in welchem Ausmaß sich Bürger*innen an Forschungsprojekten beteiligen können.
Mit diesem Blogbeitrag wollen wir einen ersten Gedankenanstoß zur Frage, inwiefern die Beteiligung an Citizen-Science-Projekten als Form bürgerschaftlichen Engagements verstanden werden kann, liefern. Außerdem wollen wir die Rolle von Freiwilligenagenturen im Rahmen von Citizen-Science-Projekten darstellen.
Freiwilligenagenturen und Citizen Science
Seit knapp drei Jahren beschäftigen sich Freiwilligenagenturen intensiver mit dem Themenfeld „Citizen Science”, der Vermittlung von interessierten Freiwilligen in Citizen-Science-Projekte oder der Beratung (siehe Abb. 2, Handlungsfelder). Erste Beispiele von Citizen-Science-Projekten finden sich in der bundesweit größten, nicht-kommerziellen Engagement-Plattform, die von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen (bagfa) gemeinsam mit der Aktion Mensch aufgebaut wurde und rund 20.000 lokale und ortsunabhängige (digitale) Engagementmöglichkeiten umfasst. Auch im Rahmen von Veranstaltungen (z.B. lokalen Freiwilligentagen) bieten Freiwilligenagenturen Citizen-Science-Projekten Gelegenheiten sich zu präsentieren, um für die Gewinnung von Freiwilligen zu werben oder eine direkte Teilnahme zu ermöglichen.
Status Quo, Herausforderungen und Zukunftsszenarien
Aus der Praxis in den Freiwilligenagenturen wird deutlich: Motivieren zur Beteiligung an (lokalen) Citizen-Science-Projekten lassen sich Menschen vor allem dann, wenn sie einen Bezug zu eigenen Interessen und einen direkten Nutzen ermöglichen. Wissenschaftliche Befunde unterstützen die Praxiserfahrungen: Mehrwert zur Wissenschaft leisten, Spaß, persönliche Interessen und Gewinn neuen Wissens motivieren Citizen-Science-Interessierte, sich an bürgerwissenschaftlichen Projekten zu beteiligen (Ngo, Altmann & Klan, 2023). Citizen Science spricht somit konkrete Motive Engagierter und Engagementinteressierter an, wie sie auch im Freiwilligensurvey abgefragt werden, nämlich Qualifikation erwerben und Spaß haben. Durch die Vermittlungsarbeit in den Freiwilligenagenturen wird auch deutlich, dass der Umstand, dass viele Citizen-Science-Projekte orts- und zeitunabhängig und im digitalen Raum zu realisieren sind, ein motivierender Faktor ist.
Jedoch muss davon ausgegangen werden, dass noch nicht viele Engagementinteressierte wissen, dass es die Möglichkeit gibt, sich freiwillig an Forschungsprojekten zu beteiligen. Auf der größten deutschen Citizen-Science-Projektplattform Bürger schaffen Wissen gibt es aktuell ca. 150 aktive Projekte, an welchen sich Interessierte beteiligen können. Demgegenüber stehen z.B. die ca. 20.000 Projekte auf der Engagement-Plattform von bagfa und Aktion Mensch. In der Fülle an Engagementmöglichkeiten werden Citizen-Science-Projekte ohne gesonderte Hervorhebung oder Suche sicher schnell übersehen. Um Citizen-Science-Projekte sichtbar zu machen, wird noch einmal mehr deutlich, wie wichtig der direkte (Erst-)Kontakt zu den Engagementinteressierten über die Freiwilligenagenturen ist. Während sich laut Freiwilligensurvey 28,8 Millionen Menschen in ganz Deutschland bürgerschaftlich engagieren (Simonson et al., 2021), gibt es noch keine verlässlichen Zahlen, wie viele Menschen sich freiwillig an Citizen-Science-Projekten beteiligen. Um den Stellenwert von Citizen Science als mögliche neue Engagementform darzustellen, braucht es fundierte quantitative Daten darüber, wer die „Bürgerforschenden” sind und welche Auswirkungen eine Beteiligung an Citizen-Science-Projekten für das Individuum als auch für die Gesellschaft haben.
Ohne dieses Wissen, können keine verlässlichen Aussagen darüber getroffen werden, inwiefern die gewünschte möglichst große Perspektivenvielfalt durch die Bürger*innen in die Projekte einfließt (Moczek, Hecker & Voigt-Heucke, 2024) und ob die theoretischen positiven Auswirkungen erzielt werden.
Gutes Freiwilligenmanagement ist ein wichtiger Faktor in der Planung und Umsetzung von Citizen-Science-Projekten, um z.B. Bürger*innen die gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Mit ihrer Expertise im Freiwilligenmanagement können Freiwilligenagenturen Citizen-Science-Projekte qualitativ verbessern. Das geschieht z.B. in der Beratung vor Ort oder im Rahmen einer Online-Workshopreihe von mit:forschen! Gemeinsam Wissen schaffen für Personen, die Interesse daran haben, eigene Citizen-Science-Projekte zu planen und umzusetzen.
Um einem Wunsch der Citizen-Science-Interessierten, aktiv gesellschaftliche Herausforderungen durch Wissenszuwachs anzugehen, nachzukommen, und dem im Koalitionsvertrag beschriebenen Zweck, „Perspektiven aus der Zivilgesellschaft stärker in die Forschung [einbeziehen]” (S.24) zu erfüllen, sollten mehr Projekte initiiert werden, die den „Bürgerforschenden” eine „echte” inhaltliche Beteiligung ermöglichen („Bürgerwissenschaft”, siehe Abb. 1).
Derzeit gibt es nur wenige überregionale und lokale Infrastrukturen und Schnittstellen, die die akademische Wissenschaft mit Citizen Science verbinden. Daher müssen bestehende Vernetzungsstrukturen ausgebaut und neue – auch zu kommunaler Verwaltung oder Unternehmen – geschaffen werden. Freiwilligenagenturen wird eine große Innovationskraft zugeschrieben, die es ihnen ermöglicht, flexibel neue Themen zu entwickeln und innovative Dienstleistungsangebote zu schaffen (Speck, Backhaus-Maul & Krohn, 2021). Insofern könnte das Thema Citizen Science auch ein konkretes Handlungsfeld zur Intensivierung der Zusammenarbeit von Freiwilligenagenturen mit Hochschulen, kommunaler Verwaltung oder Unternehmen sein. Zum Aufbau von Kooperationen müssen jedoch Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung geschaffen werden. Einrichtungen der Engagement- oder Forschungsförderung (z.B. auch die DSEE) sollten von den Vorteilen von Bürgerbeteiligung in der Forschung stärker überzeugt werden, um mehr Projekte dieser Art zu fördern. Ebenso sollten Untersuchungen, die der Wirkungsevaluation dienen, unterstützt werden, um den Mehrwert von Citizen Science noch deutlicher herauszustellen.
Mit Blick in die Zukunft wünschen wir uns, dass die Potentiale von Citizen Science als neue Form des bürgerschaftlichen Engagements erkannt und bestehende Herausforderungen gelöst werden. Dann wird Citizen Science einen wichtigen Beitrag zur Klärung gesellschaftlicher Fragen und zur sektoralen Vernetzung leisten.
Über die Gastautor*innen:
Ralf Baumgarth ist Themenpate der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen (bagfa) für Citizen Science.
Dr. Vivian Schachler arbeitet als Referentin für Forschung und Wissenstransfer bei der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE).
Quellen:
Bonn, A., Brink, W., Hecker, S., Herrmann, T. M., Liedtke, C., Premke-Kraus, M., ... & Woll, S. (2022). Weißbuch Citizen Science Strategie 2030 für Deutschland. Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft, Universitäten und außeruniversitäre Einrichtungen, Leipzig, Berlin. SocArXiv. https://doi.org/10.31235/osf.io/ew4uk
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen (2022): Citizen Science - ein Feld für Freiwilligenagenturen https://bagfa.de/wissenspool/citizen-science-ein-feld-fuer-freiwilligenagenturen/
Davis, L.F., Ramírez-Andreotta, M.D. & Buxner, S.R. (2020). Engaging diverse citizen scientists for environmental health: Rec-ommendations from participants and promotoras. Citizen Sci-ence: Theory and Practice, 5(1), 7. http://doi.org/10.5334/cstp.253
Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP: https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/gesetzesvorhaben/koalitionsvertrag-2021-1990800
Moczek, N., Hecker, S. & Voigt-Heucke, S.L. (2021). The known unknowns: What citizen science projects in Germany know about their volunteers – and what they don’t know. Sustainability, 13, 11553. https://doi.org/10.3390/su132011553
Ngo, KM, Altmann, CS and Klan, F. 2023. How the General Public Appraises Contributory Citizen Science: Factors that Affect Participation. Citizen Science: Theory and Practice, 8(1): 3, pp. 1–15. DOI: https://doi.org/10.5334/cstp.502
Simonson, J., Kelle, N., Kausmann, C., Karnick, N., Arriagada, C., Hagen, C., ... Tesch-Römer, C. (2021). Freiwilliges Engagement in Deutschland: Zentrale Ergebnisse des Fünften Deutschen Freiwilligensurveys (FWS 2019). Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-72058-4
Speck, K., Backhaus-Maul, H. & Krohn, M. (2021) Freiwilligenagenturen in Deutschland. Die Befunde der dritten quantitativen Wiederholungsbefragung, Berlin. https://oops.uni-oldenburg.de/5177/7/2021_Befunde_Freiwilligenagenturen_in_Deutschland.pdf
Dieser Beitrag ist Teil unserer Jubiläums-Blogreihe „Fragen für die Zukunft der Citizen Science". Hier geht es zur Übersicht der Blogreihe.