Citizen Science mit Schulen: „Eine Chance, Unterricht zeitgemäßer zu gestalten”
Christian Thiel ist seit März 2020 außerplanmäßiger Professor für Citizen Science an der Universität Jena und bringt dort zukünftigen Geografielehrer*innen den Forschungsansatz nahe. Wir haben mit ihm über die aktuelle PISA-Studie, Potenziale von Citizen Science im Schulunterricht und sein neues Forschungsprojekt gesprochen.
Herr Thiel, warum ist es Ihnen persönlich wichtig, zukünftigen Lehrkräften den Citizen-Science-Ansatz zu vermitteln?
Thiel: Wir müssen unsere bisherigen Lernkonzepte an den Schulen auf den Prüfstand stellen. Das haben nicht zuletzt die im Dezember vorgestellten Ergebnisse der aktuellen PISA-Studie deutlich gemacht. Ich denke, dass Citizen Science dabei ein entscheidender Beitrag sein kann, denn die Forschung hat gezeigt, dass Wissen durch aktives Lernen langfristiger verfängt. Mir ist es wichtig, bereits früh wissenschaftliches Arbeiten und die Möglichkeit, daran mitzuwirken, zu vermitteln. Citizen Science kann ein wunderbares Tool sein, um der häufig wahrgenommenen gesellschaftlichen Spaltung zwischen denen, die glauben, alles zu wissen, und denen, die glauben, abgehängt zu sein, zumindest ein bisschen entgegenzusteuern.
Welche Chancen bietet der Einsatz von Citizen Science im Schulunterricht, sowohl für die Schüler*innen und Lehrkräfte, als auch für die Wissenschaft?
Thiel: Fangen wir mal bei den Schüler*innen an: Citizen Science bietet die Chance, das Verständnis von wissenschaftlichen Prozesse zu erweitern und die Erkenntnis zu vermitteln, dass man diese auch bereits als Schüler*in mitgestalten kann. Wir versuchen, die Schüler*innen vor allem für den MINT-Bereich zu begeistern und hoffen, dass sich das auch auf die weitere Lebensplanung und Karriereentscheidungen auswirken kann. Außerdem bietet Citizen Science die Möglichkeit, Themen viel praxis- und realitätsnaher zu vermitteln, als es im normalen Unterricht der Fall wäre und das prägt sich dann auch besser ein. Im Projekt UndercoverEisAgenten, zum Beispiel, geht es um das Thema Permafrost. Schulklassen haben dabei die Option, Kontakt zu einer Schule in der Arktis aufzunehmen und erhalten somit einen direkteren Bezug dazu, was das Aufschmelzen von Permafrost für die Menschen vor Ort bedeutet.
Für die Lehrkräfte bietet Citizen Science die Möglichkeit, den Unterricht, salopp gesagt, ein bisschen aufzupeppen und neue Sichtweisen einzubringen. Viele Projekte stellen außerdem Lehrmaterialien und interaktive Tools kostenfrei zur Verfügung, die die Lehrer*innen nutzen können. Durch die Zusammenarbeit im Rahmen von Citizen-Science-Projekten kann die Verbindung zwischen Schulen und Universitäten gestärkt werden. Es kommt immer wieder vor, dass Schulen zum Beispiel im Rahmen von Projektwochen wieder auf uns zukommen und fragen, ob wir Angebote zu weiteren Themen haben. Wir hatten auch bereits Schülerpraktikant*innen bei uns an der Universität, zu denen der Kontakt über Citizen-Science-Aktivitäten im Schulunterricht entstanden war.
Für die Wissenschaft bietet Citizen Science mit Schulen sowohl die Chance, nachhaltig Wissen zu vermitteln, als auch eine solidere Datenbasis zur Beantwortung wissenschaftlicher Fragestellungen zu erhalten. Die Ansätze sind dabei je nach Projekt sehr unterschiedlich. Bei UndercoverEisAgenten wurden Schüler*innen in der Arktis mit kleinen Drohnen ausgestattet, um Daten im Gelände zu erheben. Darüber hinaus fließt aber auch die lokale Expertise der Schüler*innen und Erwachsenen ein, was wahnsinnig wertvoll für die Forschung ist. Es war wichtig herauszufinden, welche Fragen die Bevölkerung vor Ort in Bezug auf das Schmelzen des Permafrosts umtreiben, um wirklich einen positiven Impact auf die lokalen Herausforderungen zu schaffen.
Wie sieht die Vermittlung von Citizen Science an die zukünftigen Lehrkräfte konkret aus?
Thiel: Die Lehramtsstudierenden, die in der Veranstaltung sitzen, haben in der Regel noch nichts von Citizen Science gehört. Zunächst geht es erstmal darum, überhaupt ein Bewusstsein zu schaffen für solche neuen Lern- und Lehrkonzepte. Es wird vermittelt, wie Wissen transportiert wird, durch welche Maßnahmen das Wissen besser transportiert werden kann, und dass aktives Lernen Wissen dauerhaft verankert und zudem auch sehr viel Spaß macht. Im nächsten Schritt werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie man niedrigschwellig Citizen Science in seinen Unterricht integrieren kann. Es gibt ja sehr viele Citizen-Science-Projekte, die auf Schüler*innen zugeschnitten sind und wo Materialien vorhanden sind, die einfach verwendbar sind. Im dritten Schritt geht es darum, auch Technologien an die Hand zu geben, die bei Citizen-Science-Projekten eine Rolle spielen können. Es kommt natürlich sehr auf das jeweilige Projekt an, mit welchen Technologien beispielsweise Geländedaten erhoben werden. Wir üben zum Beispiel den Umgang mit Drohnen, die eben in einigen Projekten zum Einsatz kommen. Die Lehre ist sehr interaktiv und teilweise kann das, was wir erarbeiten, direkt in den Schulunterricht übernommen werden.
Wie ist die Resonanz der Lehramtsstudierenden auf Citizen Science?
Thiel: Die Resonanz ist groß und nach allem, was man so aus den Gesprächen nach der Veranstaltung raushört, planen die meisten Studienabgänger*innen, Citizen Science auch in die Schule mit einzubringen. Ob sie das dann tatsächlich tun, ist für mich schwierig zu sagen, da die Studierenden nach ihrem Studium überall verstreut werden. Was ich neben dem Interesse der Studierenden schön finde, ist, dass anderen Professor*innen an der Universität Jena begonnen haben, über ihren Tellerrand zu schauen, festgestellt haben, dass die Methoden, die ich lehre, auch für andere Fachbereiche interessant sein können und nun auch Citizen Science einsetzen.
Neben der Lehre forschen Sie mit und über Citizen Science. Welche Themen beschäftigen Sie zur Zeit?
Thiel: An der Universität Jena habe ich im Dezember gemeinsam mit dem Medienpsychologen Prof. Dr. Tobias Rothmund ein neues Projekt – SensiPov – gestartet. Dabei geht es um den Unterschied zwischen der tatsächlichen politischen Ansicht einer Person und der politischen Ansicht, die diese Person glaubt zu haben. Es ist bereits relativ gut erforscht, dass es einen solchen Wahrnehmungsbias gibt. Wir wollen ein Tool entwickeln, dass einerseits erstmal über diesen Bias informiert, ein Bewusstsein schafft und zur Selbstreflektion anregt, aber auch in der Lage ist, den Unterschied zwischen der Selbstwahrnehmung und der Fremdwahrnehmung besser zu ermitteln. Damit so ein Tool wirksam sein kann, müssen die Nutzer*innen davon überzeugt sein und es akzeptieren. Deshalb entwickeln wir es mit einem Co-Creation-Ansatz und beziehen die Menschen von vornherein in die Gestaltung des Tools ein. Schüler*innen werden dabei eine unserer Zielgruppen sein. Wir wollen politische Bildung im Unterricht verankern, denn damit kann man nicht früh genug beginnen.
Was hat sich aus Ihrer Sicht seit Beginn Ihrer Professur im Kontext Citizen Science und Schule vielleicht bereits zum Positiven verändert?
Thiel: Ich habe in diesem Bereich, insbesondere in der Ausbildung von Lehrkräften, leider nach wie vor von sehr wenigen anderen Beispielen gehört und würde sagen, es hat sich noch nicht allzu viel getan. Hier müssen wir noch viel mehr tun und bewegen. Was generell positiv ist, ist, dass inzwischen in einigen Fördermittelausschreibungen vorausgesetzt wird, dass Forschungsprojekte Transferelemente und Citizen-Science-Aspekte beinhalten. Das ist aber nicht explizit auf Schulen bezogen.
Welche Herausforderungen bestehen denn konkret weiterhin? Und wie könnten diese überwunden werden?
Thiel: Wir müssen es erstens schaffen, dass Citizen Science explizit Bestandteil der Lehrpläne wird. Das haben wir auch bereits im Weißbuch Citizen Science gefordert. In vielen Bundesländern ist es so, dass man Citizen Science zumindest mit etwas Phantasie unterbringen kann, wenn man die Lehrpläne durchschaut. Den Begriff selbst habe ich aber nicht gefunden. Zweitens müsste die Ausbildung der zukünftigen Lehrer*innen an allen Universitäten Deutschlands Citizen Science thematisieren. Und drittens müssten Lehrer*innen auch verpflichtet sein, diese Ansätze und Methoden in ihren Unterricht zu integrieren. Es ist wichtig, dass Verständnis für wissenschaftliches Arbeiten gelehrt wird und das Bewusstsein entsteht, dass jeder im wissenschaftlichen Prozess teilhaben kann. Ich glaube, das bekommen wir nur hin, wenn wir das institutionalisieren.
Wir sehen aktuell, dass wir ein riesengroßes Problem mit der Schulausbildung in Deutschland haben und müssen uns nach den Gründen hierfür fragen, denn Bildung ist das Fundament unserer Gesellschaft. Es ist zu kurz gegriffen, zu sagen, dass das daran liegt, dass bildungsferne Familien immer bildungsfern bleiben werden, denn den Abwärtstrend haben wir in allen Gruppen. Man kann natürlich fragen, inwieweit die Pandemie oder auch soziale Medien da mit reinspielen. Statt Smartphones aus dem Unterricht zu verbannen, wäre es zum Beispiel eine Möglichkeit, diese Hardware für den Schulunterricht zu nutzen, was ja auch in vielen Citizen-Science-Projekten gemacht wird. Natürlich ist Citizen Science kein Allheilmittel, aber durchaus eine Chance, den Unterricht zeitgemäßer zu gestalten.
Was ist der wichtigste Ratschlag, den Sie Ihren Studierenden in Bezug auf Citizen Science mitgeben?
Thiel: Ich würde dazu raten, die Augen offen zu halten und neugierig zu bleiben, welche Optionen es gibt, den Unterricht zu bereichern. Es gibt nahezu für jedes Schulfach und für jeden Stoff ein passendes Citizen-Science-Projekt und oft haben diese auch einen guten Fit zu den entsprechenden Jahrgangsstufen an der Schule. Manchmal lohnt es sich auch, über den eigenen Fachbereich hinauszuschauen. Außerdem würde ich davor warnen, eine Grenze im Kopf zu haben zwischen „der echten” und „der laienhaften” Wissenschaft im Sinne von institutionalisierter Wissenschaft und Citizen Science. Man muss aus dem Kopf rauskriegen, dass nur professionelle Wissenschaftler*innen zur Wissenschaft beitragen können.
Dieser Beitrag ist Teil der Blogreihe „Citizen Science mit Schulen”. Für den ersten Beitrag der Reihe haben wir mit Tim Kiessling, Co-Leiter der AG Citizen Science in Schulen, über die Entwicklung des neuen Leitfadens zur Umsetzung von Citizen-Science-Projekten mit Schulen gesprochen. Hier geht es zum Interview. Im dritten Beitrag teilen Annette Kunz-Engesser und Jan Fauser ihre Erfahrungen mit der Zusammenarbeit mit Schulen im Citizen-Science-Projekt ParKli.