Citizen Science mit Schulen: „Der Leitfaden ist ein guter erster Überblick”
Diesen Monat hat die AG Citizen Science in Schulen in Zusammenarbeit mit Bürger schaffen Wissen einen neuen Leitfaden für Projektinitiator*innen veröffentlicht, der bei der Planung und Umsetzung von Citizen-Science-Projekten mit Schulen unterstützen soll. Wir haben mit Tim Kiessling gesprochen, der den Leitfaden maßgeblich mitentwickelt hat.
Du bist Co-Leiter der AG Citizen Science in Schulen und Co-Autor von Citizen Science mit Schulen - Ein Leitfaden mit 10 Empfehlungen für Projektinitiator*innen. Welche Erfahrungen hast du selbst im Kontext Citizen Science und Schule bereits sammeln können?
Tim: Die meisten Erfahrungen konnte ich in unserem Projekt Plastic Pirates sammeln, bei dem Jugendliche an einen Fluss ihrer Wahl gehen und diesen auf Plastikmüllverschmutzung untersuchen. Ich arbeite in einem Schüler*innenlabor, der Kieler Forschungswerkstatt, da haben wir natürlich zahlreiche wissenschaftliche Angebote für Kinder und Jugendliche. In diesem Kontext habe ich auch sehr viele praktische Erfahrungen gesammelt. In der AG Citizen Science in Schulen haben wir aber ganz vielfältige Hintergründe, auch Lehrer*innen und Bildungswissenschaftler*innen bringen sich in der AG ein und beleuchten die praktische Arbeit nochmal aus einem anderen Blickwinkel, zum Beispiel mit Fokus auf die Lerneffekte bei Schüler*innen.
Was sind die Ziele der AG Citizen Science in Schulen ganz allgemein und was hat dich persönlich zum Engagement in der AG bewegt?
Tim: Unser Ziel ist, das Konzept Citizen Science bekannter zu machen, vor allem unter Lehrkräften. Wir sprechen immer ganz viel über Schüler*innen, aber die erreicht man ja in aller Regel nur über die Lehrkräfte. Citizen Science ist da noch einigermaßen unbekannt, vielleicht nicht mehr unbedingt der Begriff, aber zumindest was sich dahinter verbirgt und wie wertvoll es für Schüler*innen sein kann, an Wissenschaft teilzuhaben. Ich engagiere mich in der AG, weil wir auch in der Kieler Forschungswerkstatt den Auftrag verfolgen, Schüler*innen nicht nur zu informieren, sondern zur Teilhabe zu ermutigen.
Welche Potenziale hat die Umsetzung von Citizen-Science-Projekten mit Schulen für die unterschiedlichen Beteiligten?
Tim: Ich fange mal bei den Schüler*innen an. Hier bietet Citizen Science glaube ich etwas, was Unterricht nicht in der Form bieten kann. Unterricht ist sehr fachgebunden und findet immer zu einer bestimmten Zeit im gewohnten Umfeld statt. Citizen Science bietet die Möglichkeit, fächerübergreifend an aktuellen Forschungsthemen mitzuarbeiten, teilweise auch draußen im Feld. Es gibt verschiedene Bildungseffekte, die mit Citizen-Science-Projekten angestrebt werden können. Man kann sich zum Beispiel vornehmen, die scientific literacy der Schüler*innen zu erhöhen. Aber ich glaube, was für die Motivation der Schüler*innen in der Praxis relevant ist, das ist, dass Citizen Science etwas Neues, Spannendes reinbringt und zeigt, dass sie an Forschung teilhaben können.
Für die Lehrkräfte ist Citizen Science ein zweischneidiges Schwert. Einerseits verursacht es immer zusätzliche Arbeit, an einem Projekt teilzunehmen. Das müssen wir als Projektkoordinator*innen berücksichtigen und auch auffangen. Andererseits ermöglicht die Teilnahme den Lehrkräften aber auch, den Schüler*innen eine sehr innovative und neuartige Unterrichtsform zu bieten. Im Idealfall haben Lehrer*innen gleich gute Impulse für ihren Unterricht, zum Beispiel in Form von bereitgestellten Bildungsmaterialien.
Zuletzt zu den Projektinitiator*innen, die ja häufig Wissenschaftler*innen sind, und zu denen ich auch gehöre. Für mich persönlich bringt die Einbindung von Schüler*innen eine tägliche Reflexion meiner wissenschaftlichen Arbeit. Man muss ständig reflektieren, woran man gerade arbeitet, wie relevant das ist und ob man das Schüler*innen auch vermitteln kann.
Durch die Beteiligung von Schüler*innen bekommst du auch viele Daten für deine Forschung, oder?
Tim: Ja und ehrlich gesagt war das auch meine Hauptmotivation, als ich angefangen habe, daran zu arbeiten. Hätte es damals auch einen anderen Ansatz gegeben, eine große Menge an Daten zur Plastikmüllverschmutzung von Gewässern zu bekommen, hätte ich mich vielleicht nie mit Citizen Science beschäftigt. Meine Perspektive hat sich dann im Laufe der Zeit geändert, als ich festgestellt habe, dass da noch viel mehr dahinter steckt und man viel mehr damit machen kann, als nur Daten zu gewinnen.
Welche Besonderheiten und Herausforderungen ergeben sich bei der Umsetzung von Citizen Science mit Schulen?
Tim: Zum einen gibt es die Schwierigkeit, dass Schüler*innen keine freiwilligen Citizen Scientists sind, denn sie müssen ja am Unterricht teilnehmen. Das ist ein starker Kontrast zum Konzept Citizen Science, bei dem es um freiwillige Teilnahme geht. Wir haben außerdem die Sonderrolle der Lehrkräfte als vermittelnde Personen. Diese vermittelnde Rolle sind sie aus dem Unterricht zwar gewohnt, häufig aber nicht so sehr in Bezug auf Wissenschaftsvermittlung – sie brauchen daher oft zusätzliche Hilfestellungen oder Anregungen. Aus Sicht einer forschenden Person, die bisher nur in „traditionellen” wissenschaftlichen Kontexten gearbeitet hat, ist es natürlich auch eine Herausforderung etwas zu entwickeln von dem man anfangs nicht weiß, ob es überhaupt funktioniert, weil es auch von vielen anderen Beteiligten abhängt. Deswegen ist es ganz wichtig, das Projekt von vornherein in Zusammenarbeit mit diesen Beteiligten zu konzipieren.
Hat sich in Bezug auf diese oder auch auf andere Herausforderungen in den letzten Jahren bereits etwas zum Positiven verändert?
Tim: Bei mir an der Uni Kiel wurde zum Beispiel eine Struktur für Citizen Science geschaffen. Es gibt also Personen wie mich, die versuchen, verschiedene Citizen-Science-Akteur*innen und -Projekte zusammenzubringen. Bisher war es bei Citizen Science meiner Meinung nach oft so, dass jede*r sein eigenes Süppchen kocht und relativ wenig Austausch über das Projekt hinaus stattfindet. In den letzten Jahren habe ich – auch durch Bürger schaffen Wissen und die AGs im Netzwerk – stärker erlebt, dass man Erfahrungen austauscht und Erkenntnisse sammelt. Die zunehmende Institutionalisierung und Professionalisierung der Citizen-Science-Szene kann wiederum auch ein Hindernis sein für Leute, die bottom-up ein Projekt ins Leben rufen wollen. Das sollte man nicht aus den Augen verlieren und darauf achten, diese Menschen auch in Zukunft mitzunehmen.
In diesem Jahr hat eure AG in Zusammenarbeit mit Bürger schaffen Wissen ein Trainingsmodul und den neuen Leitfaden „Citizen Science mit Schulen” entwickelt. Wie ist die Idee dazu entstanden?
Tim: Wir haben beobachtet, dass in jedem neuen Projekt immer wieder ähnliche Fragen aufkommen. Deshalb haben wir als AG die Notwendigkeit gesehen, unser gesammeltes Wissen in Textform zusammenzufassen. Das ersetzt natürlich keine umfängliche Beratung, aber man kann sicher erste Impulse aus dem Leitfaden mitnehmen und in sein Team tragen. Uns war es wichtig, auf Prozesse hinzuweisen, die oft zu spät mitgedacht werden, aber viel Vorlauf brauchen – sei es die Co-Kreation des Projekts zusammen mit Lehrkräften oder praxisrelevante Fragen zu Datenschutz oder zur Durchführung von Umfragen innerhalb des Projekts.
Wie bist du bei der Erarbeitung des Leitfadens vorgegangen und wie waren die weiteren AG-Mitglieder eingebunden?
Tim: Ich habe einfach alles aus meinem Kopf herausfließen lassen, was sich so da über die letzten Jahre angesammelt hat. Das war sehr gut, das mal zu verschriftlichen, denn dadurch konnte man auch erkennen, wo noch Lücken waren und wo es vielleicht auch schon zu stark ins Detail ging, für diesen Überblicksleitfaden. Natürlich waren außer mir noch viele weitere Personen in die Entwicklung des Leitfadens eingebunden, ganz prominent Julia Lorke und Katrin Kruse als AG-Leiterinnen und Wiebke Brink als Projektleiterin von Bürger schaffen Wissen. Weitere AG-Mitglieder und Personen aus der Citizen-Science-Community haben sich eingebracht, indem sie den Leitfaden gelesen und kritisch kommentiert haben. So ist ein Produkt entstanden, das diverse Blickrichtungen einbezieht.
Welchen Themen widmet sich der Leitfaden und wie ist er aufgebaut?
Tim: Der Leitfaden ist in zehn Empfehlungen unterteilt, die sich an Personen richten, die Citizen-Science-Projekte mit Schulen umsetzen möchten. Anhand der Empfehlungen werden Themenfelder skizziert, von der Projektkonzeption bis hin zur praktischen Umsetzung. Bei der Projektkonzeption geht es zum Beispiel um Fragen nach den Zielgruppen und (Bildungs-) Zielen. Bei der praktischen Umsetzung geht es unter anderem darum, wie wissenschaftliches Arbeiten mit der Schulrealität vereinbart werden kann, welche Datenschutzaspekte relevant sind und wie man Wissenschaft in der Zusammenarbeit mit Schulen kommuniziert.
Was ist denn bei der Kommunikation von Wissenschaft in der Zusammenarbeit mit Schulen zu beachten?
Tim: Es geht dabei nicht nur um die Kommunikation von fachwissenschaftlichen Inhalten, sondern insbesondere um die Vermittlung wissenschaftlicher Arbeitsweisen und Prozesse. Oft denkt man, dass die Schüler*innen sich vor allem für das Fachwissen interessieren, das man als Wissenschaftler*in mitbringt. Das ist aber nicht unbedingt der Fall. Viele Schüler*innen sind vielmehr daran interessiert, wie man selbst zur Wissenschaft gekommen ist und wie der Arbeitsalltag als Wissenschaftler*in aussieht, was genau zum Beispiel eine Publikation ist und welchen Stellenwert so etwas in der wissenschaftlichen Community hat.
Wie kann der Leitfaden Projektinitiator*innen bei der Planung und Umsetzung von Citizen-Science-Projekten mit Schulen unterstützen?
Tim: Der Leitfaden ist ein guter erster Überblick, den man sich zur Vorbereitung durchlesen kann. Am Ende des Leitfadens haben wir 20 Fragen zur Reflexion des eigenen Vorhabens aufgeführt, die man in seinem Team diskutieren kann. Der Leitfaden ist ein erster Schritt, auf dessen Basis man To-Dos identifizieren kann, vor allem aber auch Personen, die man in sein Projekt einbeziehen sollte. Als Ergänzung eignet sich das Trainingsmodul zu Citizen Science in Schulen, das in der digitalen Trainingsreihe von Bürger schaffen Wissen regelmäßig angeboten wird.
Was ist der wichtigste Tipp, den du Projektinitiator*innen für die Zusammenarbeit mit Schulen mitgeben würdest?
Tim: Das wichtigste: Eine Lehrkraft mit in das Projektteam reinzunehmen! Das betone ich immer so, weil es einem selbst das Leben auch einfacher macht. Es ist natürlich sehr schwierig, eine Lehrkraft mit in das Projektteam zu holen, weil Lehrkräfte bereits total überlastet sind, gerade in der aktuellen Situation in unserem Bildungssystem. Ich empfehle daher immer, zu schauen, ob es am eigenen wissenschaftlichen Institut eine abgeordnete Lehrkraft gibt. Diese hat dann möglicherweise mehr Zeit, in dem Projekt mitzuarbeiten. Eine Lehrkraft bringt viel Wissen aus der Praxis mit, in das man sich selbst sehr mühsam einarbeiten müsste, zum Beispiel was die fachliche Anbindung an den Schulunterricht und das Curriculum angeht.
Gibt es etwas, das du dir von Projektinitiator*innen, die bereits mit Schulen zusammenarbeiten oder dies in Zukunft tun wollen, wünschen würdest?
Tim: Ich glaube, Citizen Science bietet die Chance, Schüler*innen zu erreichen, die nicht besonders bildungsprivilegiert sind, denn sie sind über den Unterricht ja verpflichtet, teilzunehmen. Ich würde mir wünschen, dass mehr Citizen-Science-Projekte auf diese Chance hinarbeiten und ausdrücklich Zielgruppen in den Fokus nehmen, die bisher eher weniger erreicht werden. Das heißt zum Beispiel, nicht nur Angebote für Gymnasien zu schaffen, also für Personen, die sowieso schon von vielen Bildungsangeboten profitieren.
Wer sich für die AG Citizen Science in Schulen interessiert, kann sich per Mail an Tim Kiessling für den Verteiler der Arbeitsgruppe anmelden. Sowohl stille Mitleser*innen als auch neue aktive Mitglieder sind willkommen.
Dieser Beitrag ist Teil der Blogreihe „Citizen Science mit Schulen”. Für den zweiten Beitrag der Reihe haben wir mit Christian Thiel, außerplanmäßiger Professor für Citizen Science an der Universität Jena, über die aktuelle PISA-Studie und die Potenziale von Citizen Science für den Schulunterricht gesprochen. Hier geht es zum Interview. Im dritten Beitrag teilen Annette Kunz-Engesser und Jan Fauser ihre Erfahrungen mit der Zusammenarbeit mit Schulen im Citizen-Science-Projekt ParKli.