„Die Teilnehmenden sind die Expert*innen“ – Nachgeforscht bei Elisabeth Heyne und Mira Witte von Natur der Dinge
Das digitale Sammlungsexperiment „Natur der Dinge. Eine partizipative Sammlung des Anthropozäns” rückt individuelle Perspektiven auf menschengemachte Umweltveränderungen in den Fokus. Wir haben mit Elisabeth Heyne und Mira Witte vom Museum für Naturkunde Berlin über die Hintergründe des deutsch-französischen Citizen-Science-Projekts gesprochen.
Worum geht es bei „Natur der Dinge. Eine partizipative Sammlung des Anthropozäns"?
Heyne: „Natur der Dinge” ist eine digitale und partizipative Sammlung, bei der es um ein anderes Darstellen und Erzählen von Umweltveränderungen geht. Wir alle kennen die wissenschaftlichen und politischen Mahnungen bezüglich Klima und Umwelt. Wir kennen abstrakte Diagramme und Zahlen, aber es ist sehr schwer, davon auf individueller Ebene ein konkretes Verständnis zu entwickeln. Es geht ja nicht nur um Klimaerwärmung, sondern auch um Biodiversitätsverlust, Plastikvorkommen auf der Erde, knapper werdende Ressourcen, Veränderungen der Stoffkreisläufe der Erde – also ein riesiges Geflecht an verschiedenen Parametern, das sich hinter dem sperrigen Begriff Anthropozän verbirgt. Wir haben uns daher gefragt, wie sich ein Austausch über aktuelle Umweltveränderungen ermöglichen lässt, der es erlaubt, sich selbst dazu in Beziehung zu setzten. Wir wollen das über das Sammeln machen, denn fast jede*r hat enge Beziehungen zu Objekten und darüber auch oft eine Beziehung zur Vergangenheit. Wir fragen also nach persönlichen Objekten, an denen diese Wandelprozesse sichtbar werden.
Wieso haben Sie sich dafür entschieden, den Begriff des Anthropozäns zu verwenden?
Heyne: Den Begriff „Anthropozän” nutzen wir zunächst einmal als Denk- und Diskussionsanstoß. Wir wollen mit der Irritation spielen, dass man sich erstmal fragt, was sich eigentlich genau dahinter verbirgt. Und dann vielleicht anfängt, sich darüber zu informieren. Wir reflektieren den Begriff des Anthropozäns aber durchaus kritisch: Er legt nahe, dass es eine Menschheit gibt, die in die Umwelt eingreift und die jetzt auch die Verantwortung dafür trägt, etwas dagegen zu tun. Betrachtet man die Genese aktueller Umweltveränderungen aber genauer und stellt dabei auch die Perspektive aus Europa und aus dem globalen Norden infrage, muss immer auch gefragt werden, von welchem Menschen hier eigentlich die Rede ist. Der Kolonialismus, das europäische Expansionsstreben und die Geschichte der Ausbeutung natürlicher und auch menschlicher Ressourcen spielt eine große Rolle in der Entstehung des Anthropozäns. Deshalb wollen wir möglichst viele Perspektiven hörbar machen und gemeinsam überlegen: Welche Stimmen sind hier repräsentiert und wer ist eigentlich nicht repräsentiert? Welche geografischen, historischen und politischen Netzwerke verbergen sich hinter unseren Alltagsobjekten?
Wie ist das Projekt entstanden?
Heyne: Das Projekt ist aus einer deutsch-französischen Arbeitsgruppe zu Citizen Science entstanden. Wir wollten gemeinsam ein Projekt entwickeln, um Veränderungsprozesse über die eigene Perspektive hinaus erfahrbar zu machen. Denn der Umweltzustand, den Menschen in ihrer Kindheit wahrnehmen, wird oft als der „normale” angesehen, obwohl der Wandelprozess natürlich schon viel früher begonnen hat. Dieses Phänomen nennt sich generationelle Umweltamnesie. Wir haben daher überlegt, wie man diese Zeitdimension über Erinnerungen in den aktuellen Diskurs zum Anthropozän einbeziehen kann.
Witte: Die deutsche Seite, also unser Team am Museum für Naturkunde Berlin, und die französische Seite, das heißt das Team am Muséum national d’Histoire naturelle in Paris, sind dabei gleichberechtigte Partner. In der Projektentwicklung sind wir wirklich jeden Schritt gemeinsam gegangen. Und auch die Entwicklung der Sammlung ist jetzt ein gemeinsamer Prozess. Möglich wird dies auch durch die Mehrsprachigkeit der Plattform - Deutsch, Französisch, Englisch.
Welche Forschungsfragen möchten Sie mit der Sammlung beantworten?
Heyne: Unsere Hauptfrage ist: Wie sieht das Anthropozän von verschiedenen individuellen Standpunkten – seien es geographische, soziale oder wissenschaftliche – aus? Wir gehen davon aus, dass wir keine neue große Erzählung darüber brauchen, wie der Mensch in die Erde eingegriffen hat. Wir wollen stattdessen die vielen verschiedenen Geschichten hörbar machen, die diese Beziehung zwischen menschlicher Aktivität und Umweltveränderung eigentlich ausmachen. Daran knüpfen weitere Forschungsfragen an: Wie formen kollektive Erinnerungen und Wahrnehmungen unsere Beziehung zur Umwelt? Wie können wir über die Auseinandersetzung mit Erinnerungen und kollektiven Imaginationen an dieser Beziehung arbeiten? Auf der museumstechnischen oder -politischen Ebene interessiert uns auch, wie wir das Museum öffnen und andere Perspektiven hereinholen können, die vielleicht noch nicht vertreten sind. Wie können wir verschiedene Stimmen und ihre Disparatheit sichtbar machen? Wie können wir andere Zielgruppen adressieren und über das Sammlungsexperiment auch wirklich langfristig ins Museum holen?
Wieso verfolgt die Sammlung einen partizipativen Ansatz und legt den Fokus damit auf die individuellen Perspektiven?
Witte: Wir wollen bewusst keine Definition vorgeben, was ein „Anthropozänobjekt“ ist. Es soll ein offener Sammlungsprozess sein, bei dem die individuellen Objekte, Geschichten und Perspektiven der Teilnehmenden im Fokus stehen.
Heyne: Auf der wissenschaftsstrategischen Ebene geht es uns außerdem darum, eine Wissenschaftspraxis zu erproben, die von Anfang an gesellschaftliche Akteur*innen stärker einbindet. Denn wissenschaftliche Erkenntnisse müssen in die Gesellschaft hineingetragen werden und in individuelle wie politische Entscheidungen einfließen, gleichzeitig müssen aber auch die gesellschaftlichen Stimmen eine stärkere Rolle in politischen und wissenschaftlichen Entwicklungen spielen.
Wie können Bürger*innen mitmachen und zum Projekt beitragen?
Witte: Zum einen können Bürger*innen zur Sammlung beitragen, indem sie ein Objekt auswählen und ihre persönliche Geschichte oder ihren persönlichen Bezug zu diesem Objekt teilen. Dazu können sie ihr Objekt einfach zu Hause fotografieren und hochladen, der Gegenstand verbleibt also bei den Teilnehmenden und wird nicht physisch gesammelt. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, analog zu Objektlabels in physischen Sammlungen, das Objekt über verschiedene Kategorien, wie zum Beispiel das Material, zu beschreiben. Bereits in der Entwicklung des Projekts waren Bürger*innen über verschiedene Workshops mit Fokusgruppen eingebunden, beispielsweise bei der Erarbeitung eben dieser Kategorien. Mit der Zeit wollen wir auf unserer Plattform außerdem verschiedene interaktive Funktionen freischalten, über die Teilnehmende kommentieren und untereinander in den Dialog treten können.
Heyne: Die Idee dahinter ist auch, dass die Sammlung das Kuratieren für die Teilnehmenden öffnet: Mit der Plattform stellen wir einen Raum zur Verfügung. Die sammelnde und kuratorische Tätigkeit liegt am Ende aber wirklich komplett bei den Teilnehmenden. Und perspektivisch wollen wir auch die Forschung, die dann an diesen Objekten passiert, gemeinsam mit den Teilnehmenden machen. Wir wollen nicht die Teilnehmenden beforschen, sondern einen Dialog entstehen lassen und eine gemeinsame wissenschaftliche Praxis erarbeiten. Die Teilnehmenden sind die Expert*innen, nicht wir.
Welche Kriterien sollten die Objekte, die von den Bürger*innen zur Sammlung hinzugefügt werden, erfüllen?
Witte: Eigentlich gibt es nur drei Kriterien: Erstens sollte das Objekt aus der Vergangenheit stammen. Zweitens sollte die oder der Teilnehmende einen persönlichen Bezug zu diesem Objekt haben. Und drittens sollte die Person an dem Objekt eine Geschichte von Umweltveränderung oder der eigenen Beziehung zur Umwelt erzählen.
Heyne: Da wir das Kriterium der Vergangenheit bewusst nicht genauer definiert haben, wird da häufig ein Reflexionsprozess angestoßen: Was ist eigentlich Vergangenheit für mich? Und wo kommen die Objekte her, die ich habe – sind die vielleicht sogar älter als ich? Das ist ein Prozess, den wir jetzt schon oft beobachtet haben, dass die Leute bei der Objektauswahl anfangen zu recherchieren und dann plötzlich erst auf all diese Vergangenheiten stoßen, die daran hängen. Genau auf diese Erweiterung des eigenen Zeithorizonts zielen wir ab, dass man sich plötzlich auf einem (oder mehreren) Zeitstrahl verortet, der weit über einen hinausgeht, sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft.
Können Sie beispielhaft Objekte nennen, die bereits zur Sammlung eingereicht wurden?
Witte: Eine Teilnehmerin, die auch schon in den Fokusgruppen-Workshops mitwirkte, hat einen Kissenbezug zu unserem Launch-Event mitgebracht, bei dem einige Objekte professionell digitalisiert wurden. Sie hat den Bezug aus einem Leinenstoff genäht, den sie auf dem Dachboden eines Bauernhauses gefunden hat. Es gab sogar noch eine Notiz an dem Stoff: Er wurde 1927 auf dem Hof hergestellt. An diesem Objekt wird, so die Teilnehmerin, die Bedeutung von Materialität und Nachhaltigkeit, von Handwerk und dessen Wertschätzung deutlich.
Heyne: Ein weiteres Objekt, das uns schon während der Entwicklung des Projekts begleitet hat, ist eine Zimmerpflanze. Die Teilnehmerin hatte diese Pflanze bereits als kleines Kind, als sie einen Ableger von ihrer Großmutter geschenkt bekam. Erst für unseren Workshop hat sie recherchiert, um was für eine Pflanze es sich eigentlich handelt und woher sie kommt. Es ist ein Usambara-Veilchen und kommt ursprünglich aus der Region, die heute Tansania ist. Die Pflanze wurde von deutschen Kolonialbotanikern nach Deutschland gebracht und löste hier einen Trend aus. An diesem Objekt wird also die Verflechtung von Kolonialgeschichte und Botanik, die Migrationsgeschiche natürlicher Objekte sichtbar.
Witte: Die Sammlung startet zwar als deutsch-französisches Projekt, soll aber zukünftig darüber hinaus gehen, um möglichst vielfältige Perspektiven zu versammeln. Viele Objekte bringen schon eine globale Perspektive mit, gerade wenn sie hoch verarbeitet sind, und wir werden technisch noch weiter daran arbeiten, dass man diese Wege auch nachzeichnen kann.
Wie geht es mit „Natur der Dinge. Eine partizipative Sammlung des Anthropozäns" weiter? Worauf freuen Sie sich bei den nächsten Schritten besonders?
Heyne: Auf die Objekte natürlich, auf das Entstehen der Sammlung! Das ist jetzt erst einmal unser Hauptfokus, dass wir Menschen dazu einladen, mitzumachen. Das ist selbstverständlich kein Selbstläufer. Deshalb entwickeln wir gerade verschiedene Formate, um Menschen nicht nur für Erzähl- oder Digitalisierungs-Workshops ans Museum zu holen, sondern auch andere Zielgruppen anzusprechen, das Museum zu verlassen und an andere Orte zu gehen. Wir wollen weiterhin hybride Formate austesten und im Austausch mit den Teilnehmenden die Sammlung und die Plattform in Richtung eines kollaborativen Forschungsprozesses weiterentwickeln.